Das Schwein ist genau richtig

Unter Heuersdorf liegt ein Schatz – 40 Millionen Tonnen Braunkohle. Das sächsische Dorf soll verschwinden, einfach so. Beim Schlachtfest stärken die Heuersdorfer ihren Kampfgeist, jetzt erst recht  ■ Von Detlef Krell

Schwarz-Grün kickt gegen Blau-Rot, fünfzig Zuschauer stehen um das Fußballfeld. Auf der dreifach gekrümmten Dorfstraße defilieren die Familien im Festgewand. Heute feiert Heuersdorf Schlachtfest, und Wein soll es geben im Gasthaus „Zur Glocke“. Betagte Damen und Herren ächzen gutgelaunt die steile Stiege hinauf in den Saal, einen Saal mit Girlanden und Luftschlangen. Bald sind die Zehnertische gut besetzt. Kaffeezeit, die Wirtin hat gebacken. Es gibt Pflaumenkuchen und Eierschecke. Vor dem Schlachtfest aber die Pflicht – Vereinssitzung.

Heuersdorf, mittendrin im Leipziger Revier, hängt wie ein dicker Tropfen am Tagebaurand. In ihm spiegelt sich die Welt: Schaufelradbagger und Windkraftanlagen, Arbeitsplatzgarantien und Energiesteuer, Wahlkampfschlachten und Familiengeschichten, Veag und Mibrag, CDU und SPD. 400 Millionen Tonnen Braunkohle liegen im Tagebau Schleenhain, davon 40 Millionen Tonnen unter dem Dorf. Die Mitteldeutsche Braunkohle AG (Mibrag) will ran an die Kohle. Die Vereinigte Energiewerke AG (Veag) baut in Lippendorf ein neues Kraftwerk. Vor ein paar Tagen hat der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) den Grundstein gelegt, im Jahr 2000 sollen die Öfen angefeuert werden. Lippendorf wird jährlich 10 Millionen Tonnen Kohle verheizen. Vierzig Jahre lang will die Veag das Kraftwerk betreiben und die Mibrag den Tagebau. Also muß Heuersdorf weg. Sagen CDU, SPD, IGBE, Veag, Mibrag. 320 BürgerInnen von Heuersdorf wollen bleiben. Sollten sie sich durchsetzen, wäre das die größte anzunehmende Niederlage der Biedenkopf-Regierung – und ein GAU für die Kohlelobby.

Sachsens bekanntester Dorfschulze empfängt mit offenen Armen und wehendem Jackett seine weitgereisten Gäste. Zum „Verein für Heuersdorf“ gehören neben 100 Dorfbewohnern mehrere Juristen, Architekten, Leipziger Bündnisgrüne, die Vorsitzende des Vereins für sächsische Volksbauweise, BUND-Aktivisten und Kirchenleute. „Ohne euch“, ahnt Bürgermeister Horst Bruchmann, „wäre unser Dorf verloren.“

In der Tischrunde des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) seufzt der parteilose Bruchmann: „Daß die Grünen nicht mehr im Landtag sind, ist die größte Scheiße!“ Von den Sozialdemokraten hat er nichts mehr zu erwarten. Die Gemeinde, empfahl kürzlich der SPD-Energieexperte Johannes Gerlach resignierend, möge doch nicht länger „wie Don Quichotte gegen die Windmühlen kämpfen“ und lieber „aus der Umsiedlung das Beste herausholen“. Als ob das Dorf etwas gegen Windkraftanlagen hätte.

Die Heuersdorfer fragten sich nicht, klärt Bruchmann, wie sie umziehen, „sondern ob das notwendig ist“. Welche Not das Dorf wenden soll, wenn es für das „Gemeinwohl“ in die Grube fährt, habe den Leuten noch niemand überzeugend erklären können. „Wir meinen, daß sich die Energiepolitik des Freistaates realisieren läßt, ohne den Ort abzubaggern.“ So spricht der Politiker Bruchmann, der auf zwei Gleisen verhandeln muß: einerseits, dem Bürgervotum folgend, die Vertreibung verhindern; andererseits, für den schlimmsten Fall, die Umsiedlung zu bestmöglichen Konditionen verhandeln. Andere im Saal dürfen radikaler reden: „Da müßte schon die GSG 9 anrücken und das Dorf räumen.“

Im kaffeeduftenden Tanzsaal „Zur Glocke“ eröffnet jetzt der Erste Vorsitzende des „Vereins für Heuersdorf“ die Sitzung. Neuigkeiten: Vier Dörfler haben bei der Mibrag unterschrieben, daß sie ihr Haus verkaufen wollen. Jeder Haushalt bekam mindestens zwei Werbebriefe mit ähnlichem Wortlaut: Verkaufen Sie, bevor es zu spät ist! Wir könnten uns an neutralem Ort treffen! Der Rechtsanwalt berichtet von Verhandlungen mit der Landesregierung: „In den großen Fragen gibt es keine Bewegung.“ Im kleinen schon. Endlich wurde die Gemeinnützigkeit des Vereins anerkannt, und für die Gemeinde gibt es wieder ABM-Stellen, obwohl Arbeitsamts-Beamte meinten, „das Dorf kommt eh weg“. Wie soll nun „die Vereinsarbeit vorangetrieben werden“? fragt der Vorsitzende. Jemand begeistert mit der Idee, im Sommer ein Fest zu feiern. Auf den Tischen liegt der erste „Heuersdorfer Löwe“, die Vereinszeitung. Benannt ist sie nach dem Prunkzeichen des alten Rittergutes: Zwei steinerne Löwen ruhten auf der Freitreppe des Gutshauses, bis Kriegsende. Nach der Bodenreform sollten die lockigen Machtsymbole verschwinden. Zwei Dörfler gewährten ihnen Unterschlupf auf Privatgrundstücken. Bald sollen die Löwen an ihren alten Platz, vor der Gemeindeverwaltung, zurückkehren. Der Heuersdorfer Kampf, verkündet im Geleitwort der Bürgermeister, „gleicht dem Charakter des Löwen. Geduldig und gemütlich, verträglich und die Ruhe liebend, jedoch gefährlich, wenn man seine Geduld ausreizt...“.

Heuersdorf liegt im monotonen Leipziger Süden, dreißig Kilometer von der Großstadt entfernt. Der Regionalzug Leipzig–Altenburg hält stündlich im Nachbarort Deutzen, einem industriellen Straßendorf. Deutzen gilt den Heuersdorfern als abschreckendes Beispiel, wie tief eine Gemeinde sinken kann, wenn die Nachbarn einander nicht mehr kennen. Einsturzgefährdet das denkmalwürdige Fünfzigerjahre-Kulturhaus und gesichtslos die Siedlung. „Die haben ja nicht mal eine Kirche“, lacht abfällig eine junge Frau, „Heuersdorf hat zwei!“ Inge Keller sitzt mit ihrer Familie am langen Tisch, Ehemann, Kinder, Großmutter. „Wir verkaufen nicht“, sagt sie, „weil unsere Vorfahren seit dem Dreißigjährigen Krieg auf diesem Grundstück gelebt haben. Wir wissen, was wir hier haben!“ Sie weiß auch, was sie mit der Umsiedlung bekämen: „Schulden.“ 200.000 Mark mindestens, trotz der 150.000 Mark „Umsiedlungspauschale“, die von der Mibrag gezahlt würde. Und das in diesen Zeiten!

Arbeitslos die Frau, einen schlechtbezahlten Job in der Wellpappefabrik der Mann. „Unsere drei Kinder wohnen noch bei uns zu Hause, die haben alle Arbeit. Wir leben mit drei Generationen unter einem Dach. In diesem Haus bin ich geboren, hier will ich auch sterben.“

Dann geht es los, das Schlachtfest. Das Schwein ist genau richtig, jetzt wabert es fett auf tiefen Tellern, und ein älterer Herr entert leichtfüßig die Bühne. Frau Keller erkennt ihn wieder: „Das war mal ein bekannter Schlagersänger in der DDR.“ Kaum setzt der Unterhaltungskünstler die Trompete an, füllt sich das Tanzparkett. „Rote Lippen soll man küssen, denn zum Küssen sind sie da.“

Bürgermeister Bruchmann darf noch nicht tanzen. Bei ihm wechseln im Takt die Gesprächspartner. Dazu genießt er einen und noch einen 1992er Grauen Burgunder aus der Klostermühle Odenheim im Nahe-Gebiet. Winzer Christian Held ist außerhalb seines Weingutes einer der Rechtsanwälte des bedrohten Dorfes und heute gefeierter Gast des Schlachtfestes. Seine Weine tragen diesmal einen Zusatznamen: „Heuersdorfer Löwe“; die Hälfte des Kaufpreises „dient dem Erhalt des Dorfes“. Anwalt Held fällt ein drastisches Urteil über den von der sächsischen Staatsregierung und der Mibrag im Juni 95 ausgehandelten Heuersdorf-Vertrag: „Zusammengeschustert“ sei das Papier, ein Flickwerk auslegbarer, widersprüchlicher Regelungen. Held hat keine Bedenken, den Streit auch vor Gericht auszutragen: „Regierung und Mibrag mögen ein Konzept für sozialverträgliche und schuldenfreie Umsiedlung erarbeiten und einen geeigneten Standort für ein neues Heuersdorf vorschlagen.“ Wenn sie zudem nachweisen könnten, daß diese Umsiedlung „zwingend erforderlich“ sei, dann, erst dann würde man über einen „Heuersdorf-Vertrag“ reden.

Genau dieser Nachweis aber dürfte ihnen schwerfallen, darauf baut das Dorf. Wenn Lippendorf genehmigt wurde, ohne daß die Umsiedlung der Gemeinde rechtsverbindlich beschlossen war, könne die Zukunft des Kraftwerkes wohl kaum mit der des Dorfes verkuppelt werden.

Ähnlich wie im brandenburgischen Dorf Horno, wo die Greifer der Lausitzer Braunkohle AG (Laubag) vor der Tür stehen, hat sich auch in Heuersdorf ein organischer Dorfalltag weitgehend erhalten. Seit den fünfziger Jahren lebt dieser 700 Jahre alte Ort mit ungewisser Zukunft. Uralte Bauernhöfe werden von ihren Bewohnern vor dem Verfall bewahrt, das Leben spielt sich zwischen Laden, Kneipe, Kirche und Sportplatz ab. Zum Dorfbums und Schlachtfest stecken alle, Enkel und Oma, unter einem Dach.

Und der Dialog mit der Landesregierung ist, anders als in Horno, noch nicht abgebrochen. An der Freitreppe zur Gemeindeverwaltung, dem historischen Gutshaus, weht ein Transparent im Wind – Gruß an die Kohleförderer und an Sachsens Wirtschaftsminister: „Trotz Mibrag und Schommer erleben wir hier auch in zwanzig Jahren noch den Sommer!“