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Gruselbilder aus dem Atomreaktor

AKW-Unfall in Japan: Die öffentliche Meinung wendet sich erstmals gegen die Plutoniumpolitik  ■ Aus Tokio Georg Blume

Der ehrgeizige Plan der japanischen Regierung, noch in diesem Jahrhundert eine eigenständige Plutoniumindustrie aufzubauen, gerät ins Wanken. Beamte im Tokioter Wissenschafts- und Technologieministerium veranschlagen die Dauer der nötigen Reparaturarbeiten am Prototyp des ersten schnellen Brüters Japans auf bis zu zwei Jahre. Doch nach Ansicht von Jinzaburo Takagi, Leiter des Citizens' Nuclear Information Center, einem Think-tank der Anti-AKW- Bewegung, könnte die Vorzögerung sogar „zehn bis zwanzig Jahre“ währen.

Am Freitag abend hatte sich in der westjapanischen Provinz Fukui das bislang größte Unglück der japanischen Plutoniumgeschichte ereignet, als ein Kühlrohr des schnellen Brüters „Monju“ zwei bis drei Tonnen des hochexplosiven Kühlmittels Natrium freigab.

Bis gestern war den Betreibern des nach dem französischen Superphénix zweitgrößten Schnellbrüterprojekts der Welt die exakte Ursache des Unfalls noch nicht genau bekannt. Untersuchungen müßten noch eine Woche warten, bis die Natriumbrandgefahr beseitigt sei, teilte die Kraftwerksleitung mit. Der Reaktor war am Freitag abgeschaltet worden.

Gruselige Fernsehbilder, die einem Science-fiction-Film entnommen schienen, geisterten in den vergangenen Tagen über Japans Mattscheiben. Die Kameras beobachteten das technische Aufsichtspersonal der lokalen Behörde bei seiner Suche nach der Unfallstelle. Dabei patschten die Techniker in silbernen Schutzanzügen durch schneeweiße Natriumpfützen, bis sich ihnen in der Nähe des Unfallorts ein Bild der Verwüstung bot. Der Natriumbrand hatte ein Loch von einem Meter Durchmesser in eine Wand gerissen. Durch das Loch war am Wochenende säuerlich riechender Rauch in die Umwelt entwichen.

Der Brand hatte annähernd drei Stunden gedauert, weil die hohen Temperaturen — schon beim Regelbetrieb erreicht das Natrium etwa 500 Grad Celsius — jeden menschlichen Einsatz am Unfallort verhinderten. Unabhängige Experten schätzen die Brandtemperatur auf über 1.000 Grad Celsius. Sie stellte damit auch eine potentielle Gefahr für das nahe Gebäude des Reaktorkerns dar. Noch am Tag nach dem Unfall konnten sich die Techniker nur für wenige Minuten in der Nähe der Brandstelle aufhalten, weil ihre Schutzanzüge der Hitze nicht standhielten.

Trotz des Mangels an Untersuchungen vor Ort glauben sowohl Regierungs- als auch unabhängige Experten, daß ein Schweißfehler an einem Kühlrohr im Sekundärkreislauf des Reaktors die Ursache für das Natriumleck darstellt. Die örtliche Anti-AKW-Bewegung hatte schin vor Jahren Informationen erhalten, daß aufgrund des Zeitdrucks beim Bau des Reaktors unausgebildete Schweißer eingesetzt wurden. Tatsächlich war das undichte Kühlrohr bereits im Jahr 1992 vollständig ersetzt worden. In schnellen Brütern besteht zudem eine besondere Unfallgefahr: Wegen des geringen Drucks des Kühlmittels werden nur Rohre mit einer Wanddicke von einem Zentimeter verwendet. Obwohl die Regierung in Tokio schon am Wochenende die Gefährlichkeit des Vorfalls einräumte, verharmlosen die Behörden nach Ansicht von AKW-Kritiker Jinzaburo Takagi die Bedeutung des Unfalls.

„Drei Tonnen Natriumverlust hat es bisher noch in keinem Atomkraftwerk der Welt gegeben“, widersprach Takagi gestern Behauptungen von Tokioter Beamten, die Unfälle mit bis zu 30 Tonnen Natrium in der Vergangenheit in Frankreich entdeckt hatten. Laut Takagi handelte es sich bei bisherigen Unfällen dieser Art jedoch keinesfalls um Rohrbrüche im Kühlsystem, sondern um Lecks in Natriumbehältern, die keine vergleichbare Gefahr darstellten.

Ähnlich alarmiert reagierten die lokalen Präfekturbehörden. Der Gouverneur von Fukui traf gestern mit Premierminister Tomiichi Murayama zusammen, um eine Revision der Sicherheitsvorschriften für den Schnellbrüter zu verlangen. Vor allem die Tatsache, daß die Präfektur erst eine Stunde nach dem Unfall informiert und wichtiges Informationsmaterial zunächst unterschlagen wurde, hatte vor Ort Protest ausgelöst.

Tatsächlich scheint der Unfall einen Meinungswandel in der japanischen Öffentlichkeit zu bewirken: „Der Unfall hat die japanische Plutoniumpolitik grundsätzlich in Frage gestellt“, kommentierte die größte Zeitung des Landes, Yomiuri, welche die gleiche Politik bisher immer verteidigt hatte. Dabei erwähnt die Zeitung, daß eine Verzögerung des Schnellbrüterprogramms zu einer Aufstockung der japanischen Plutoniumvorräte führe. Im Ausland erwecke Japan damit Mißtrauen, da sich Plutonium zum Bau von Atomwaffen eigne.

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