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Massenprotest gegen den „König der Blutsauger“

■ Der Widerstand eskaliert: Hunderttausende protestieren in ganz Frankreich gegen die sozialen Sparpläne von Premier Juppé. Der Streik wird überall fortgesetzt

Paris (taz) – Der Weihnachtsmann kommt von der Télecom de France. Normalerweise repariert er Kabel. Heute trägt er ein großes Schild vor der Brust. „Juppé, die Franzosen glauben eher an mich als an dich“, steht darauf. Darüber baumelt ein langer weißer Kunstfaserbart. Die Kumpel haken ihn ein. „Weihnachtsmann, wir sind bei dir“, skandieren sie. Und: „Juppé – Rücktritt.“ In dichtgeschlossenen Reihen marschieren die Telefonarbeiter über den Pariser Boulevard du Temple. Stundenlang haben sie auf dem Place de la Republique auf den Abmarsch gewartet. Dabei haben sie gesungen wie beim Fußball – „Wir werden siegen“ – und auf die mitgebrachten Fässer getrommelt. Das wärmt auf. Seit zehn Tagen sind sie im Streik. Ihre Stimmung war nie besser.

Die Pariser Demonstration der Hunderttausenden ist größer als alle vorausgegangenen dieser Bewegung. Auch in Marseille demonstrieren mehr als 100.000 Menschen. In Toulouse sind es 70.000, in Nantes 50.000. Die zentrale Forderung – der „Plan Juppé“ muß weg – ist überall gleich. In Paris gilt der Premierminister schon als ein Mann der Vergangenheit. Eine Gruppe von Elektrizitätsarbeitern balanciert einen Sarg über den Köpfen der Menschenmassen. „Plan“ steht oben drauf. „Juppé“ steht – deutlicher und größer geschrieben – unten. „Juppé – zieh Leine“ heißt es, oder: „Juppé – König der Blutsauger“. „Juppé, sperr die Ohren auf“, hat ein junger Mann, der auf ein Autodach gestiegen ist, auf sein Transparent geschrieben, „der Ton wird immer lauter.“

„Natürlich muß der zurücktreten“, sagt Marie-Jeanne, die seit 20 Jahren in der Kantine eines Rathauses arbeitet und dafür 6.000 Franc (ca 1.700 Mark) erhält. Zu Hause hat sie drei Kinder. Ihr Sohn ist schon 23 Jahre alt und hat noch nie eine Arbeit gefunden. Das nötige Geld für die Gewerkschaften hat Marie-Jeanne nicht übrig. Aber bei diesem Streik macht sie trotzdem mit. Wenn der nächste Premierminister nicht besser wird, sagt sie, „dann streiken wir eben wieder. Solange, bis die einsehen, daß es nicht geht.“

Das „Volk der Linken“ ist heute auf der Straße – Wähler des sozialistischen Kandidaten Lionel Jospin, der bei den Präsidentschaftswahlen im Mai unterlag. Aber auch andere: Anne-Marie nimmt an ihrer ersten Demonstration seit 1968 teil. Sie hat „die gegenwärtige Regierung“ gewählt. Und sie ist bitter enttäuscht. Aus „Solidarität“ mit ihren streikenden Kollegen ist sie heute gekommen. Dabei hätte sie im Augenblick nichts lieber als ein baldiges Ende des Streiks. „Natürlich muß die Sozialversicherung reformiert werden“, sagt sie, „aber doch nicht so!“

„Was hier passiert, ist ein Diktat“, erklärt Antoine. „Die politische Klasse lebt auf einem anderen Planeten als wir. Die haben nicht die geringste Ahnung von uns.“ Seine Kollegen von der Straßeninstandhaltung, die in ihren leuchtend orangefarbenen Arbeitsanzügen gekommen sind, stimmen zu. Ein paar von ihnen haben im Mai Chirac gewählt. „Das war ein großer Fehler“, sagt einer von ihnen.

Auch unter die Eisenbahner haben sich Weihnachtsmänner gemischt. Mit dem „Vater Juppé“ gehen sie drastisch ins Gericht. Einer nennt ihn „Müll“, der andere hat ihn auf einer Zeichnung, die er über die Menge trägt, durch den Fleischwolf gedreht. Seit 19 Tagen sind die Eisenbahner im Streik. Wie bei ihren Streikwachen brennen sie bunte Leuchtkerzen ab. Wo sie auftauchen, bricht Applaus aus. Sie haben es geschafft, den Sanierungsplan für die Staatsbahn SNCF und die Rentenpläne von Juppé zu kippen. Jetzt wollen sie auch den Sparplan für die Sozialversicherung loswerden. „Vorher brechen wir unseren Kampf nicht ab“, sagt eine Fahrkartenverkäuferin vom Bahnhof Montparnasse. Am Morgen hat sie die „Superstimmung“ auf der täglichen Streikversammlung erlebt: „Keiner war für Abbruch.“

Die Lehrerin Janine wartet frierend und mit leuchtenden Augen am Ende des Demonstrationszuges. „Früher“ war sie politisch sehr aktiv. Sie hat für Algerien gekämpft und war 1968 wochenlang auf der Straße. „Heute ist die Stimmung anders“, sagt sie, „die Demonstranten sind vernünftiger, ernster. Und es gibt keine Gewalt. Aber die Menschen sind entschlossen.“ Dorothea Hahn Seite 8

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