piwik no script img

Der Messias der Massen tritt ab

In Haiti endet mit den Wahlen am kommenden Sonntag die Ära Aristide. Ob seinem Nachfolger die politische Konsolidierung gelingt, ist fraglich. In den Slums bewaffnet sich eine Guerilla  ■ Aus Port-au-Prince Ralf Leonhard

Port-au-Prince (taz) – Wenn es dunkel wird in Cité Soleil, dann dauert es noch eine halbe Stunde, bis der Strom kommt. Elektrizität von fragwürdiger Nützlichkeit: Die Lichtstärke der einzigen Glühbirne, die von der kahlen Decke im engen Haus des Renal Jolifils hängt, schwankt beständig. Kein Wunder, daß der Fernseher, der nutzlos auf einem Regal steht, vor Monaten seinen Geist aufgegeben hat.

Renals elfjährige Tochter sitzt auf dem Betonboden und kämmt ihr Haar, seine hagere Mutter hockt in völliger Finsternis vor der Tür und schrubbt die Wäsche in einem Bottich mit kaum zwei Handbreit Wasser. Draußen auf der Straße, wo man sich hüten muß, nicht in die offenen Abwasserkanäle zu treten, sind Gesänge zu hören. Sonst herrscht Stille im größten Slum der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince.

Noch ist das Leben für die Armen Haitis genauso beschwerlich, wie es unter Militärdiktatur und Wirtschaftsembargo war. Lebensmittel sind teuer, weil die staatlichen Dienstleistungsbetriebe um Cité Soleil einen großen Bogen machen. Das Terrain wird so Spekulanten und Ausbeutern überlassen, die Wasser zu überhöhten Preisen herankarren. Nur die Repression der Militärs hat aufgehört, seit US-Truppen im September 1994 intervenierten und der zuvor weggeputschte Präsident Jean- Bertrand Aristide einen Monat später zurückgekehrt ist. Bis dahin hatte die Cité Soleil im Schatten der Armeekaserne Fort Dimanche gelebt, von wo aus Killertrupps der Militärs Jagd auf Oppositionelle machten. Heute ist hingegen keine Angst vor der Staatsgewalt zu spüren. Denn von der Polizei läßt sich die Bevölkerung keine Willkürakte mehr gefallen.

Am 29. November zog ein Polizist nach einem Disput mit einem Buschauffeur die Waffe und erschoß den Mann. Als aufgebrachte Nachbarn herbeieilten, verlor er offensichtlich die Nerven, ballerte wild um sich und verletzte ein Mädchen tödlich. Die Anwohner begannen daraufhin, den Polizeiposten mit Steinen zu attackieren. Erst die Intervention der Interimspolizei – sie besteht aus ehemaligen Angehörigen der alten Sicherheitskräfte und soll aufgelöst werden – machte der Belagerung ein Ende. Die Interimspolizei ist mit allen Wassern gewaschen und zögert bei Tumulten nicht lange mit dem Einsatz von Tränengas und Schußwaffen. Sie wird erst dann ihren Dienst quittieren, wenn kanadische und US-amerikanische Berater aus jungen und unerfahrenen Kräften eine neue Polizeitruppe aufgebaut haben werden.

Seit dem Zwischenfall spricht man von einer „Roten Armee“, einer organisierten bewaffneten Bewegung in Cité Soleil. Sie wird nicht nur für die Belagerung des Polizeipostens, sondern auch für eine Serie anderer Gewalttaten verantwortlich gemacht. Außerdem soll sie hinter einem Attentat mit Molotowcocktails und Granaten auf eine Anlage der Elektrizitätsgesellschaft stecken. Zwölf Verdächtige wurden am Freitag vergangener Woche in diesem Zusammenhang festgenommen.

Die Gruppe ist zweifellos gut bewaffnet. Funktionäre der UN- Mission für Haiti berichten, daß kleine Kinder in die Lager der Blauhelme eingedrungen seien und Waffen abgeschleppt hätten. Selbst von fahrenden Panzern konnten Jugendliche ungehindert Kriegsgerät erbeuten. Auch Pistolen, die bei spontanen Entwaffnungsaktionen von paranoiden Mitgliedern der Bourgeoisie konfisziert wurden, sollen in den Arsenalen dieser geheimnisvollen Stadtguerilla gelandet sein.

Die einen wittern hinter der bedrohlichen Aufrüstung der Slumbewohner radikalisierte Anhänger von Präsident Aristides Lavalas- Bewegung. Andere wiederum glauben an eine Wiederbewaffnung der rechtsextremen Kräfte. Renal Jolifils ist jedoch überzeugt davon, daß die alten Schergen der Diktatur in Cité Soleil kaltgestellt sind: „Die ehemaligen Tontons macoutes und Mitglieder der rechtsradikalen Fraph sind bekannt und werden von der Bevölkerung überwacht. „Ich kann mir nicht vorstellen, daß die hier wieder aktiv werden.“ Die zunehmende Gewalt sei vielmehr eine Reaktion frustrierter Jugendlicher: „Weder der Staat noch die Nichtregierungsorganisationen haben den jungen Leuten etwas anzubieten.“

Die meisten jungen Leute finden keine Arbeit und suchen im tristen Alltag nach Abwechslung, richten ihre Aktionen aber auch immer wieder gegen jene, die sie als Schuldige an ihrer Misere ausmachen. Etwa gegen den Arzt Reginald Boulos, dessen regierungsunabhängige Organisation einen Großteil der für Cité Soleil bestimmten Hilfsgelder aus dem Ausland kanalisiert. Als dessen Vater unter der Duvalier-Diktatur als Minister fungierte, vertrieb er Schwester Adeline, eine Nonne des Ordens St. Vincent de Paul, die mitten im Slum eine Schule aufgebaut hatte. Daraufhin übernahm Boulos die Schule als Privatbetrieb und begann Gebühren zu kassieren. „Viele Jugendliche begannen dort zu studieren, mußten aber wegen der hohen Gebühren die Ausbildung abbrechen“, erzählt Renal in lupenreinem Französisch. Nur für die Darstellung komplizierter Zusammenhänge verfällt er ins umgangssprachliche Kreol.

Genauso wie Monsieur Boulos sind Mitglieder der deutschstämmigen Familie Mevs Ziel von Attacken geworden. Die Mevs kontrollieren einen Teil der Hafenanlagen, Öltanks und Industrieparks und zählten seinerzeit zu den Protegés der Militärregimes. Unter der Diktatur zahlten die Mevs Schutzgelder an die Offiziere von Fort Dimanche. Nach der Auflösung der Armee durch den wiedereingesetzten Aristide stellten sie ihre private Schutztruppe auf die Beine.

Die „Rote Armee“ hat zwar unter diesem Namen weder für einen Anschlag die Verantwortung übernommen noch in einem Kommuniqué ihre Existenz verkündet, doch ist sie eine Kraft, die in den Slums gefürchtet wird. Für den Vorsitzenden der Politischen Organisation Lavalas (OPL), Gérard Pierre-Charles, einen unverbesserlichen Optimisten, ist die „Armée Rouge“ ein vorübergehendes Phänomen, das sich erledigt, wenn die neue Polizei sich einmal konsolidiert hat. Doch Präsident Aristide nimmt die Gruppe so ernst, daß er vor ein paar Tagen enge Vertrauensleute zu Gesprächen nach Cité Soleil schickte. Selbst die Wahlveranstaltung des Lavalas-Kandidaten René Préval mußte mit den radikalen Kräften ausgehandelt werden. Daß es innerhalb der Linken zu Konflikten kommt, ist nicht zuletzt eine Folge der zweideutigen Haltung des Präsidenten, der bis zuletzt mit der Versuchung gespielt hat, die Wahlen vom kommenden Sonntag abzusagen und sein Mandat um drei Jahre zu verlängern – jene drei Jahre, die er nach dem Staatsstreich vom 30. September 1991 im Exil verbringen mußte. Das wäre zwar verfassungswidrig, aber politisch vielleicht durchsetzbar gewesen, weil die Basis sich nicht von ihrem charismatischen Führer trennen will. Noch Ende November nahm Aristide von einem Kongreß von Basisdelegierten die Forderung nach Mandatsverlängerung wohlwollend entgegen.

Die Lavalas-Parteien, die für den ehemaligen Premierminister René Préval Wahlkampf machen, sahen sich daher genötigt, deutlich die Einhaltung der konstitutionellen Fristen einzufordern. Trotzdem wurde selbst vier Tage vor den Wahlen noch ein Treffen im schneeweißen Regierungspalast angesetzt, bei dem Aristides Berater einen letzten Versuch unternehmen wollten, die Wahlen in ein Plebiszit umzuwandeln.

Daß Aristide auch nach dem 7. Februar 1996 mitregieren wird, ist kaum zu bezweifeln. René Préval gilt als sein politischer „Zwillingsbruder“. Die 13 Oppositionsparteien, die Kandidaten ins Rennen schicken, werden schwerlich eine Stichwahl erzwingen können. Denn die rechten Gruppen, die mit der Duvalier-Diktatur und dem Militärregime identifiziert werden, sind nach der Auflösung der Armee politisch besiegt. Und die Zentrumsparteien, die vor fünf Jahren die Kandidatur Aristides mittrugen, konnten sich zu keinem ernsthaften Wahlkampf entschließen. Die „Nationale Front für den Wandel und die Demokratie“ hat sich als Partei auf Boykott festgelegt. Was allerdings zwei ihrer prominentesten Vertreter, Firmin Jean-Louis und Léon Jeune, nicht daran hinderte, als unabhängige Kandidaten anzutreten.

Obwohl die Aufbruchsstimmung, die den Präsidentschaftswahlen vom Dezember 1990 vorausging, fehlt und obwohl Aristide bisher keine Wahlempfehlung abgegeben hat, rechnen Lavalas-Aktivisten damit, daß Préval die 67 Prozent seines Vorgängers sogar übertreffen könnte. Ob damit die politische Konsolidierung glückt, die dem Land die notwendige Stabilität für den Wiederaufbau geben muß, hängt wohl davon ab, ob die Allianz der ehemaligen Militärs mit der wirtschaftlich mächtigen Oligarchie weiterhin aus dem Ausland Unterstützung erfährt.

Denn die Gefahr politischer Gewalt ist keineswegs gebannt. Am 7. November wurde auf zwei Lavalas-Abgeordnete mitten in Port-au-Prince ein Attentat verübt. Einer, Jean Hubert Feuille, war sofort tot, der andere, Gabriel Fortune, liegt schwer verletzt im Krankenhaus. Mangels funktionierender Justiz brannten Lavalas- Anhänger in den Heimatstädten der Opfer die Häuser von bekannten Duvalier-Sympathisanten nieder. Noch sorgen die 6.000 Mann Blauhelme und die Beobachter der Vereinten Nationen für eine gewisse Stabilität. Doch im Laufe des nächsten Jahres werden die Truppen sukzessive abgezogen.

Die Hilfswerke und staatlichen Entwicklungshilfeorganisationen aus aller Welt haben in den letzten Monaten ihre nach dem Putsch eingefrorenen Projekte wiederaufgetaut und neue Projekte gesponsert. Derzeit sind sie noch fast ausschließlich mit Feuerwehrmaßnahmen beschäftigt. Sie beseitigen Müllberge, ebnen die tiefen Krater in den Straßen ein und füttern die notleidende Bevölkerung durch. Der Aufbau geht wegen mangelnder Infrastruktur so zäh voran wie der Verkehr auf den Straßen der Hauptstadt. Der bricht immer wieder zusammen, wenn eines der schrottreifen Vehikel plötzlich den Geist aufgibt und die Fahrbahn blockiert.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen