piwik no script img

■ Land in AufruhrPräsident abgetaucht

Die Franzosen sind in Aufruhr. Frankreich steht still. Das Parlament führt Scheindebatten. Die Kommunikation zwischen oben und unten ist blockiert. Das Mißtrauen steigt täglich. Der Premierminister gilt als Volksbeschimpfer. Kaum macht er den Mund auf, strömen weitere Zigtausende auf die Straße – wo sie ihm das Mißtrauen aussprechen.

Wo ist in dieser Situation der oberste Repräsentant Frankreichs? Der Mann, der über allen anderen Institutionen der V. Republik steht? Dessen weitgehende Funktionen und Pflichten in mehr Verfassungsartikeln definiert sind als die von Regierung und Parlament zusammen? Der Staatspräsident, der den Premierminister als Ersten Minister engagiert hat und der ihn jederzeit entlassen kann? Der das Parlament auflösen und ein Referendum organisieren kann?

Jacques Chirac hat sich den Franzosen entzogen. Seit Beginn der Massenstreiks in seinem Land widmet er sich ganz der Außenpolitik. Bei dem Frankophonie-Treffen in Kotonou, bei dem deutsch-französischen Treffen in Baden-Baden, bei der Unterzeichnung der Dayton-Verträge in Paris, und – morgen – bei dem Gipfel der Europäischen Union in Madrid.

Am Dienstag – dem bisherigen Höhepunkt der Protestbewegung – gab Chirac eine wie üblich live im Fernsehen übertragene Erklärung aus dem Elysee- Palast ab. Um 17.30, während an die 2 Millionen Menschen auf Frankreichs Straßen gegen die Politik seines Premierministers protestierten, sprach er über seine jüngste diplomatische Glanzleistung: die Freilassung von zwei französischen Piloten aus serbisch-bosnischer Gefangenschaft. Die Situation in seinem eigenen Land erwähnte er mit keinem Wort.

Dabei war es Chirac, der mit sozialpolitischen Versprechungen im Wahlkampf hohe Erwartungen geweckt hatte. Es war Chirac, der ein paar Monate später die 180-Grad-Kehrtwende zu einer rigiden Sparpolitik vollzog. Und es war Chirac, der Juppé beauftragte, dieses Projekt in konkrete Politik zu übersetzen.

Die Streikenden richten ihre Forderungen an Juppé. Den Staatspräsidenten tasten sie nicht an. Noch nicht. Chirac hat die Franzosen wissen lassen, er habe sich nicht wählen lassen, um sieben Jahre lang populär zu sein. Will er statt dessen sieben Jahre lang sein Volk ignorieren? Dorothea Hahn, Paris

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen