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Alles passiert zum ersten Mal

■ Kindheitsszenen im neuen Buch von Walter Kempowski

Melancholie ist als Pose vertraut aus den Lebenserinnerungen von Schriftstellern. Melancholisch ist auch der Grundton in den Kinderszenen von Walter Kempowski, die er in seinem neuen Buch „Weltschmerz“ vorstellt. Kempowski, 1929 in Rostock geboren, geht es jedoch nicht darum, seinen Lebensweg nachträglich zu stilisieren. In den Erinnerungen von Sigmund, so heißt der kindliche Held im Buch, entsteht ein Bild bürgerlicher Normalität in einer norddeutschen Stadt in den dreißiger Jahren: beim Bäcker gibt's Rumkugeln und Rosinenbrötchen, die Mutter besucht mit Sigmund Frau Professor, SA-Männer marschieren über den Goetheplatz.

Mit fotografischer Sorgfalt beschreibt der Autor die Gegenstände der kindlichen Lebenswelt: „Den Panzer zieht man an der Seite auf. Mit seinen Gummiraupen kommt er rasch voran, er klettert über jede Teppichfalte. Im Innern wird von einem Rad des Uhrwerks ein Feuerstein angerissen, dann sprüht es aus der Kanone Funken. In der offenen Turmluke steht die Büste eines Panzersoldaten, der grüßt.“ Die Genauigkeit in diesen Momentaufnahmen ist nicht auf die Fixierung von Ort, Zeit und Personen bedacht. Ihr Gewicht gewinnt sie eher durch das Modellhafte jeder Erinnerung: Alles, was passiert, geschieht zum ersten Mal. In seinen Erinnerungen beherrscht Sigmund von Anfang an das Gefühl, der Welt ausgeliefert zu sein: „Und nun sah er, daß die Mutter auf ein dunkles Tor zufuhr. Er sah nicht den verzierten Giebel des Stadttores, sondern nur den dunklen Torschlund. Sie näherten sich ihm, und da fing er an zu schreien, und er schrie und schrie: Nicht durch das Tor! Aber die Mutter lächelte und schob ihn hindurch.“

Die Erinnerung wird schichtenweise erkundet: Es fällt dem Erzähler schwer, noch zu unterscheiden, was davon erlebt, was später erzählt und was geträumt ist. Eine „reine“, vom späteren Leben ungetrübte Erinnerung gibt es ohnehin nicht. Kempowskis Kinderszenen beschwören einen geistigen Raum, der bereits das ganze Inventar des Denkens und des Fühlens im Kern enthält, das den Erwachsenen ausmacht: „...im großen Hof meines Gedächtnisses. Daselbst sind mir Himmel, Erde und Meer gegenwärtig...“ (Augustinus). Blitzartig taucht das wahre Bild der Vergangenheit auf: „Zufällig hatte er zum Fenster gesehen: die schwarze Wetterwand und davor die Sonne auf den gelben Bäumen. Junge Schwalben saßen auf den Telegraphendrähten, und gegenüber schloß eine Frau das Fenster. Da hatte es ihn plötzlich geschüttelt: du nicht! hatte er gedacht: du nicht! und er hatte sich aufs Bett geworfen und hatte geweint. Das war ein anderer Schmerz gewesen, es war, als ob er sein ganzes Leben begriff, von Anfang bis Ende: und daß es davor kein Entrinnen gibt.“ Peter Walther

Walter Kempwoski: „Weltschmerz, Kinderszenen, fast zu ernst“. Albrecht Knaus Verlag, 32,80 DM

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