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Haitis Wahlsieger hat null Stimmen

Mit überwältigender Mehrheit wird René Préval zum neuen Präsidenten erkoren. Doch die katastrophal niedrige Wahlbeteiligung sichert seinem Vorgänger Aristide die Macht  ■ Aus Port-au-Prince Ralf Leonhard

Der nächste Präsident Haitis heißt René Préval. Obwohl noch kein offizielles Ergebnis der Präsidentschaftswahlen vom Sonntag vorliegt, lassen die ersten Auszählungen keinen Zweifel am überwältigenden Sieg des Agronomen und ehemaligen Premierministers. Über 80 Prozent der gültigen Stimmen dürfte er auf sich vereinigt haben. Die restlichen 13 Kandidaten hat er damit zu traurigen Statisten degradiert. Mit Prévals Wahl ist eine Fortsetzung der sozialreformerischen Politik Präsident Aristides garantiert – freilich in dem engen Rahmen, den die internationalen Finanzinstitutionen zulassen.

Getrübt wird der Triumph allerdings durch eine katastrophal niedrige Wahlbeteiligung von weniger als 30 Prozent. Prévals Aufgabe, die fragile Demokratie, die im Vorjahr durch die Intervention multinationaler Truppen und die Vertreibung des Putschistenregimes wiederhergestellt wurde, zu konsolidieren, wird dadurch erheblich erschwert.

In St. Marc, rund 100 km nördlich der Hauptstadt Port-au- Prince, einer ehemaligen Hochburg der Duvalier-Diktatur, hatten am Wahltag um zehn Uhr vormittags in den meisten Wahllokalen erst zehn bis 15 von je etwa 400 eingetragenen Wählern ihre Stimme abgegeben. Die Einwohner von St. Marc saßen wie an anderen Sonntagen auch irgendwo im Schatten, spielten Fußball oder ließen die Beine ins kristallklare karibische Meer baumeln. Die Chefin der lokalen Beobachterdelegation der Organisation Amerikanischer Staaten, Sonia Tobia, schätzte die Wahlbeteiligung zu dem Zeitpunkt auf ein bis zwei Prozent. In den Dörfern auf der Strecke nach Port-au-Prince herrschte ähnliche Apathie. Marie-Lourdes Bellas, die Vorsitzende der Wahlkommission des Ortes Camps Marie zählte bis zum Mittag 16 WählerInnen, fünf davon waren Mitglieder ihrer Kommission.

Anders als bei den Parlamentswahlen vom Juni, den ersten freien Wahlen, die der Verantwortung der haitianischen Behörden unterstanden, wurden diesmal weder nennenswerte Organisationsmängel gemeldet, noch kam es zu Gewaltakten. Der einzige bewaffnete Zwischenfall fand in dem Städtchen Petit Goave, 68 km westlich von Port-au-Prince, statt. Dort wurde das Nummernschild eines UN-Fahrzeuges durch Schüsse verbeult.

In Cité Soleil, den berüchtigten Slumvierteln von Port-au-Prince, wo Störaktionen radikaler Gruppen befürchtet wurden, herrschte völlige Ruhe. Auch dort, wo vor fünf Jahren fast alle Erwachsenen ihre Stimme für Jean-Bertrand Aristide abgegeben und die ganze Wahlnacht gefeiert hatten, herrschte für den von ihrem Idol designierten Nachfolger wenig Begeisterung.

Die Apathie hat mehrere Gründe. Demokratie nach europäischem Verständis hat in Haiti, wo mehr als drei Viertel der Bevölkerung in Armut leben, keine Tradition. Die Menschen erwarten sich von einem Regierungswechsel konkrete Veränderungen. Vertus Tileus in Camps Marie, dessen sozialdemokratische KONAKOM vor fünf Jahren noch die Kandidatur Aristides mitgetragen hatte, ist von der Bilanz der letzten Jahre enttäuscht: „Es geht uns genauso schlecht wie vorher. Alles wird teurer.“

Die bedingungslosen Anhänger Aristides wiederum sehen nicht ein, warum ihr Präsident seinen Platz räumen muß, wenn er doch weiterhin die Bevölkerungsmehrheit hinter sich hat. Sie fordern, daß die durch den Staatsstreich von 1991 „verlorenen drei Jahre“ nachgeholt werden. Es fehlt nicht an Gruppen, die Aristide gern als Präsident auf Lebenszeit installiert sähen – eine Forderung, die fatal an die Duvalier-Dynastie erinnert, die fast dreißig Jahre als Familiendiktatur über Haiti herrschte.

Der ehemalige Salesianerpater Aristide, der für die Nachricht des Tages sorgte, als er sich bei der Stimmabgabe erstmals öffentlich in Begleitung seiner Verlobten, der 33jährigen Anwältin Mildred Trouillot, zeigte, ist an der geringen Wahlbeteiligung nicht unschuldig. Erst am Vorabend der Wahlen stellte er sich deutlich hinter „seinen“ Kandidaten Préval. Zu spät, um eine massive Mobilisierung zu garantieren.

Seine Kritiker werfen Aristide vor, seine zögernde Haltung sei wohlkalkuliert gewesen. Dank der schwachen demokratischen Legitimierung der künftigen Regierung werde Aristides Machtposition unangefochten bleiben. Konnte man von einem starken René Préval erwarten, daß er die Institutionen stärken, den Ministerien und dem Parlament die von der Verfassung vorgesehene Rolle zukommen lassen würde, so ist nun zu befürchten, daß ein schwacher Staatschef zur Marionette seines charismatischen Vorgängers wird.

Trotz der schwachen Beteiligung bilden die Wahlen einen Meilenstein in der Geschichte Haitis. Zum zweiten Mal seit eine Sklavenrevolte gegen das napoleonische Frankreich im Jahr 1804 zur Unabhängigkeit führte, wird ein gewählter Präsident seinem gewählten Nachfolger das Amt übergeben und anschließend nicht außer Landes gehen. Daß die fünfjährige Regierungsperiode durch einen neuen Putsch unterbrochen wird, muß nach der Auflösung der Armee durch Aristide nicht mehr befürchtet werden.

Portrait auf Seite 11

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