: Mautgebühren finanzieren die Katastrophe
Ein gigantischer Hochwasserschutz verwandelt die Bucht der Ostsee vor St. Petersburg zur Kloake. Nach fünfjährigem Baustopp soll der „Erstickungsdamm“ nun doch zu Ende gebaut werden ■ Aus St. Petersburg Reinhard Wolff
„Der gigantische Dammbau vor Leningrad, der 35 Kilometer des äußersten Endes des Finnischen Meerbusens abtrennen soll, wird nicht vollendet. Dies beschloß am Dienstag abend der Leningrader Stadtsowjet.“ Diese Meldung, die am 16. Oktober 1990 über die Ticker ging, ist mittlerweile Schnee von gestern. Auch wenn man sich ansonsten im heutigen St. Petersburg bemüht, mit dem abgelegten Namen auch möglichst alles zu vergessen, was an die Sowjetzeiten erinnert, das zu Beginn der achtziger Jahre von Moskau angeordnete Gigantenprojekt soll nunmehr zu Ende geführt werden.
100 Meter breit ist die Lücke im Damm, die noch für die Durchfahrt der Schiffe bleibt. Verrosten auf der links vom Schiff liegenden Dammseite auch zwei Kräne und aus unfertigen Betonfundamenten herausragende Stahlträger seit dem vor fünf Jahren verhängten Baustopp, rechts tut sich etwas. Zwei große Laster füllen Steine in ein von den Wellen gegrabenes Loch im Damm. Von Abriß ist keine Rede mehr. Für den Fertigbau mangelt es nicht am politischen Willen, sondern nur am Geld.
30 statt der 80 geforderten Millionen Mark hat Moskau für dieses Jahr bereitgestellt. Was im wesentlichen tatsächlich nur für den allerdringendsten Unterhalt reicht. Weshalb Boris Usanow nun westliche Geldgeber zu interessieren versucht. Er ist Chef der Meeresschutzbehörde von St. Petersburg, die nicht das Meer vor der Stadt, sondern die Stadt vor diesem schützen soll. Denn als Zar Peter der Große befahl, hier seine Hauptstadt in den morastigen Boden zu setzen, hatte er nichts von den regelmäßigen Überschwemmungen gewußt. Kräftiger Westwind läßt das Wasser auf vier Meter und mehr über den normalen Wasserstand ansteigen und bescherte damit den St. PetersburgerInnen teilweise regelrechte Flutkatastrophen, die Hunderte von Menschen das Leben kosteten.
„Sollen wir auf den Fehler von Peter dem Großen jetzt einen noch größeren obendrauf setzen?“ Galina, Studentin und Mitglied der „Umweltgruppe Delta“, versteht die Welt nicht mehr „bei soviel Ignoranz“. Sicherlich, 1824 seien noch mindestens 569 Menschen bei einer Flutkatastrophe ums Leben gekommen. Aber jetzt seien Schutz- und Vorwarnsysteme so gut ausgebaut, daß es um allenfalls begrenzte materielle Schäden gehe. Den Rest erledige die stetige Landhebung in diesem Teil der Erde: in 100 Jahren immerhin ein ganzer Meter. Die letzte große Überschwemmung von 1986 war nach ein paar Stunden wieder abgelaufen. Sie kostete einige hundert Millionen Rubel wegen wassergefüllter Keller, unbrauchbar gewordener Stromkabel und des Produktionsausfalls von Fabriken. „Und deswegen St. Petersburg in eine lebende Kläranlage verwandeln?“
An der „lebenden Kläranlage“ war seit 1980 gebaut worden. Mehr als 4 Milliarden Mark sind bislang auf den Meeresboden der Bucht zwischen Lomonossow und Kronstadt und zwischen Kronstadt und Sestroreck gesetzt worden. Eine knapp 26 Kilometer lange Dammanlage aus elf festen Sektionen, gebaut aus Bodensediment, Steinen und Schachtmassen aus Bergwerken. Dazwischen zwei Rinnen für die Schiffahrt und bei Bedarf innerhalb einer halben Stunde schließbare große Fluttore.
UmweltschützerInnen hatten gleich Alarm geschlagen. Und Mitte der achtziger Jahre damit so etwas wie die erste funktionierende Umweltschutzbewegung der Sowjetunion ins Leben gerufen: die Umweltgruppe Delta. Immerhin 1.000 TeilnehmerInnen protestierten am 19. Mai 1987 vor der Isaakskathedrale der Stadt gegen den Bau und die damals schon sichtbar werdenden Folgen des Staueffekts. Und im Frühjahr 1990 unterstützte sie eine WissenschaftlerInnengruppe der sowjetischen Akademie der Wissenschaften: Der als Schutzdamm vor Überschwemmungen geplante Sperrdamm sei dabei, die Leningrader Bucht in eine stinkende Kloake zu verwandeln.
„Es ist jedes Jahr schlimmer geworden“, erzählt Galina. „Im Sommer ist das Wasser oft grün von Algen und stinkt fürchterlich.“ Der Grund hierfür ist so einsichtig, daß man sich fragt, warum der Bau überhaupt begonnen wurde: Die Abwässer der Haushalte und Fabriken von St. Petersburg und den umliegenden Orten werden fast ungeklärt in die Ostsee geleitet. Wenn das Wasser überhaupt gesäubert wird, dann nur über eine primitive Klärstufe.
Eine womöglich noch schlimmere Dreckfracht aus dem Bereich des Ladogasees kommt über den Fluß Newa dazu. Hier sind vor allem Zellulose- und Papierfabriken – finnische wie russische – die großen Wasserverschmutzer. Einigermaßen gut ging dieses „Klärsystem“ noch, solange bei Hochwasser der ganze Dreck hinaus in tiefere Ostseegewässer verfrachtet wurde. Der wachsende Damm behinderte diesen Selbstreinigungseffekt jedoch immer stärker.
Die nun fast völlig abgetrennte, 400 Quadratkilometer große Meeresbucht ist extrem flach – bis auf die ständig ausgebaggerten Fahrrinnen für Schiffe meist nur zwei bis drei Meter tief. Die normalerweise geöffneten Fluttore sind offensichtlich unzureichend dimensioniert. „Sofortiger Baustopp“ lautete daher auch das Resultat der Konsequenzenanalyse der sowjetischen Akademie der Wissenschaften vor fünf Jahren. Kommissionsvorsitzender Aleksej Jablokow damals: Möglicherweise sei die Newabucht nur durch einen Abbruch größerer Teile des fertiggestellten Damms zu retten.
Daß der Chef der Meeresschutzbehörde dies ganz anders sieht, vermag nicht zu verwundern. Auch wenn der Augenschein dies vermuten lasse, so sei die Verschmutzung der abgesperrten Newabucht nicht angestiegen. Messungen – die allerdings bereits 1992 vorgenommen wurden – zeigten, daß beispielsweise der Gehalt an Schwermetallen vor und hinter dem Damm gleich hoch sei. Boris Usanow: „Der Damm hindert den Wasserdurchfluß zwischen Ostsee und Newabucht in keinster Weise.“ Nichts spreche daher dagegen, den Damm zu vollenden, und alles dafür: Die Bucht von St. Petersburg werde im Gegenteil vor den Industrieabwässern aus Estland und Finnland geschützt. Auf der geschlossenen Dammkrone könne dann endlich die Umgehungsstraße verlaufen, die St. Petersburgs Innenstadt merklich entlasten werde. Mit Abgaben aus dem Autoverkehr ließen sich auch die Kosten für die 20 Prozent noch ausstehenden Dammbauarbeiten finanzieren, meint Usanow. Ein sicheres Geschäft für Kreditgeber, die den Mut zur Vorfinanzierung hätten, wäre dies.
Die Suche nach der fehlenden einen Milliarde Mark möge noch lange ergebnislos verlaufen, hoffen Galina und die Umweltgruppe Delta. Schwerer als zu sowjetischen Zeiten sei es nämlich geworden, MitstreiterInnen gegen das Dammprojekt zu gewinnen. Zu sehr schon hätten sich die BewohnerInnen der Stadt damit abgefunden, daß oft eine allzu trübe Brühe aus den Wasserhähnen komme.
Tatsächlich wird das Wasser für den größten Teil der sechs Millionen Einwohner der Stadt einfach aus drei Entnahmestellen in der Newa mitten in der Stadt gepumpt und nur notdürftig geklärt. „Wir sind ja auch bislang davon nicht krank geworden, lautet das Standardargument“, berichtet Galina vom frustrierenden Kampf um Unterstützung für ihre Herzensangelegenheit – TouristInnen empfiehlt man, peinlichst jeden Mundkontakt mit dem Leitungswasser zu vermeiden.
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