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Erfolg auf halber Strecke

■ Noch ist die französische Streikfront nicht ganz zusammengebrochen. Ob sich der Arbeitskampf gelohnt hat, wird sich erst bei den Verhandlungen mit der Regierung zeigen Aus Paris Dorothea Hahn

Erfolg auf halber Strecke

So plötzlich, wie er ausgebrochen ist, geht der Arbeitskampf in Frankreich nicht zu Ende. Gestern – 27 Tage nach dem Beginn des Eisenbahnerstreiks – standen in Marseille und Bordeaux immer noch die Busse im Depot, funktionierten die öffentlichen Verkehrsbetriebe in Paris nur zur Hälfte, waren im Süden des Landes weiterhin Bahnhöfe blockiert und zogen am Nachmittag wieder Demonstrationen durch viele Orte.

Der Konflikt hat gezeigt, daß sich die gesamte Elite des Landes geirrt hat. Vor einem Monat hatte niemand die Befindlichkeit der Franzosen so explosiv eingeschätzt, daß sie zu einem der längsten Streiks der V. Republik führen könnte. Dann kam – am 23. November – die Initialzündung der Eisenbahner. Binnen weniger Tage dehnte sich die Bewegung auf breite Bereiche des öffentlichen Dienstes aus. Und wider Erwarten sympathisierte auch der größte Teil der in der Privatwirtschaft Beschäftigten mit den Streikenden. Zwar bestreikten sie nur ganz punktuell private Unternehmen – doch beteiligten sie sich massiv an den vielen Aktionstagen der letzten Wochen und gingen trotz aller Nachteile im Alltag eben nicht zu den Anti-Streik-Demonstrationen, die bis zum Schluß nicht die 1.500-Teilnehmer-Grenze überschritten.

Die anfänglichen Motive der Eisenbahner waren eigennützig – sie wehrten sich gegen den Sanierungsplan für die Staatsbahn SNCF, der Arbeitsplatzreduzierungen, Streckenstillegungen, eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit und ungünstigere Rentenregelungen für sie vorsah. Mit dem Anwachsen der Streikbewegung dehnten sich die Forderungen ständig aus. Bald ging der Ruf nach dem kompletten Rückzug des „Juppé-Plans“ zur Sanierung der Sozialversicherung durch das ganze Land. Im Vorfeld des morgigen Sozialgipfels hat die Protestbewegung, die von der Basis kam, eine branchenübergreifende Qualität erreicht: Sie will mit der Regierung all das verhandeln, was die Franzosen sozial- und wirtschaftspolitisch bedrückt – von der Anhebung der Mindestlöhne bis hin zur Arbeitszeitverkürzung. – Die Malaise, die dem Konflikt seine Stärke gab, ist generell. Ihre Genese führt an den Anfang der 80er Jahre zurück. Seither erleben die Franzosen das kontinuierliche Anwachsen der Arbeitslosigkeit, steigende Reallohnverluste und eine stete Aushöhlung ihrer Sozialversorgung. Auch die Demontage der sozialen Errungenschaften hat in den 80er Jahren begonnen. Sowohl sozialistische Premierminister wie Rocard und Bérégovoy als auch Konservative wie Balladur und jetzt Juppé waren daran beteiligt.

Nach 14 Jahren Mitterrandismus war die Wahl von Jacques Chirac, der den Kampf gegen die soziale Ausgrenzung versprochen hatte, der letzte Versuch, die Verschlechterung der Lage mit dem Mittel der Wahlen aufzuhalten. Chiracs Erklärung über den Beginn einer neuen Austeritätspolitik, die zwei Jahren dauern soll, beendete diesen Traum nur sechs Monate nach seiner Wahl zum Präsidenten. Nach den Sozialisten hatten damit auch die Konservativen ihre Glaubwürdigkeit verloren.

Konsequenterweise hegte die Protestbewegung keine Illusionen in Richtung irgendeiner Oppositionspartei. Die Straße fühlte sich von linken ebenso wie von rechten Politikern verraten. Ihre Kritik richtete sich gegen die gesamte „politische Klasse“. Die soziale Malaise mischte sich mit der seit Jahren aufgestauten Unzufriedenheit – über die Korruption und Realitätsferne an der Spitze des Landes, über die Verknöcherung des Systems und über die undemokratische Regierungsweise.

Die Streikenden haben einen Teilsieg errungen: Die Eisenbahner konnten sämtliche sie betreffenden Forderungen durchsetzen. Aber den Juppé-Plan in seiner Gesamtheit kippten sie nicht. Einen Erfolg in den generellen Forderungen verbucht auch der Rest des öffentlichen Dienstes für sich.

Stark gelitten hat die Glaubwürdigkeit der „politischen Klasse“ in diesem Konflikt: die der Regierung, die erst nach drei Wochen bereit war, mit den Vertretern der Streikenden zu reden. Und die der sozialistischen Opposition, die von Anfang an versucht hat, eine Politisierung des Konfliktes zu verhindern. Ein tiefer Graben offenbarte sich auch zwischen der Opposition auf der Straße und der parlamentarischen Debatte. Während es außerhalb des Parlaments in den letzten vier Wochen schwierig war, einzelne Unterstützer von Juppés Politik zu finden, überstand der Premierminister hinter den Parlamentsmauern problemlos zwei Mißtrauensvoten.

Der Premierminister selbst hat in dem Streik zugleich verloren und gewonnen. Immerhin ist er gegen den Druck der Straße und vor allem gegen die laute Kritik aus seinem eigenen Lager zunächst bei seiner Position geblieben. Aber seine Methode – die der Verordnung von oben nach unten, ohne irgendeine Konsultation – ist gescheitert. Er muß von morgen an bei dem Sozialgipfel mit jenen verhandeln, die er aus seinem Reformprojekt heraushalten wollte. Und er tut das unter dem Druck einer Basis, die nun ihre Stärke kennengelernt hat und jederzeit erneut in den Streik treten könnte.

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