: Berlin verdiente am Frankreich-Streik
Eine Beamtin macht im Jahr neun Milliarden Mark Schulden. Wenn die Franzosen streiken oder der Dollar fällt, klingelt ihr Telefon in der Finanzverwaltung: „Jeder Abschluß ist aufregend“ ■ Von Dirk Wildt
Susanne Reichenbach wirkt unscheinbar. Die 38jährige ist Beamtin in der Finanzverwaltung. Keiner würde ihr ansehen, daß sie erst vor zwei Wochen einen Kredit in Höhe von 100 Millionen Mark aufgenommen hat. Sie leiht für das Land Berlin Geld aus – in diesem Jahr knapp neun Milliarden Mark. Seit dreieinhalb Jahren arbeitet die Volkswirtin im Kreditreferat in der Nürnberger Straße, telefoniert mit über 100 Banken, kommt aber mit einem Telefon aus und findet immer noch „jeden Abschluß aufregend“.
Die vergangene Woche war für Reichenbach langweilig. Denn am Freitag überwies die Bundeszentralbank vom Länderfinanzausgleich die vierte Rate in Höhe von 600 Millionen Mark. Davon können ein Teil der Löhne und Gehälter im Öffentlichen Dienst oder ausstehende Rechnungen etwa für Baufirmen bezahlt werden. Die Stadt, die in diesem Jahr schätzungsweise 10 Milliarden Mark mehr ausgeben als mit Steuern, Gebühren und dem Länderfinanzausgleich einnehmen wird, braucht in diesen Tagen kein Geld.
So bleibt bei Mangel an Bedarf auch das Telefon still. Denn zwischen den Banken und dem Kreditreferat gibt es seit Jahren eingespielte Geschäftsbeziehungen. Die gutinformierten Geldmakler wissen, wann ihre Angebote nicht gefragt sind.
Wenn allerdings der Dollar fällt oder die Franzosen ihre Regierung wegstreiken wollen, glüht der Draht in Reichenbachs Telefon. Deutsche und ausländische Banken reagieren empfindlich auf innenpolitische Entwicklungen und bieten überschüssige Gelder vorzugsweise auf ruhigen Märkten an, da hier Kredite angeblich zuverlässiger zurückgezahlt werden. Mit Beginn des Streiks in Frankreich drängelten sich die Geldanbieter auf dem deutschen Markt und mußten folglich ihre Zinsen senken, um die unangenehm große Zahl von Konkurrenten auszubooten. So konnte Reichenbach zugreifen und nahm vor zwei Wochen jenen 100-Millionen-Mark- Kredit auf.
Den Durchblick über die allgemeine Weltwirtschaft und die Zinslage verschafft sich die „Schuldenbeamtin“ mit Hilfe eines Computers. Auf dem Bildschirm erscheinen die neuesten Meldungen der Londoner Nachrichtenagentur Reuter. Doch auch auf dieser Art Wirtschaftsbarometer ist nicht immer zu erkennen, ob die Banken ihre Angebote innerhalb der kommenden vier Stunden um einen Zehntelprozentpunkt anheben oder senken. So muß sie sich auf ihre Kenntnisse verlassen.
Innerhalb eines Vormittags kann sie für das Land bis zu eine halbe Million Mark herausholen oder verlieren. Wie geschickt sie verhandelt, kontrolliert grundsätzlich niemand. Unabhängig von ihrem Erfolg bekommt die Beamtin am Monatsende immer das gleiche Gehalt. Würde sie den selben Job aber in einer Bank machen, bekäme sie Provision – je besser das Geschäft.
Ein Angebot von unter 10 Millionen Mark lehnt die Kreditbeauftragte des Landes in der Regel ab. Im Durchschnitt liegt ein einzelner Kredit bei 50 Millionen Mark. Die Grenze von 100 Millionen Mark wiederum wird in der Regel nicht überschritten. Die Entscheidung fällt am Telefon innerhalb von Sekunden. Solche Handelsgespräche werden vom Kreditmakler der Bank auf Tonband aufgezeichnet, um mögliche Mißverständnisse später aufklären zu können. Eine schriftliche Bestätigung des Handels verschickt das Kreditreferat mit der Post. „Eine absolut unbürokratische Verfahrensweise“, schwärmt Referatsleiter Kurt Kijewski.
Das Referat besteht mit der Reichenbachs aus acht Stellen. Der Stuhl ihres Kollegen ist im Moment unbesetzt. Wegen des überraschend hohen Defizits von rund 10 Milliarden Mark im Landeshaushalt dieses Jahres hat Finanzsenator Elmar Pieroth (CDU) vor kurzem eine Ausgabensperre verhängt, freigewordene Stellen dürfen derzeit ohne Ausnahmegenehmigung nicht besetzt werden. Zwei andere Mitarbeiter greifen Reichenbach unter die Arme, dürfen selbst aber keine Kreditverhandlungen führen. Die anderen vier Kollegen sind damit beschäftigt, Kredite zu tilgen oder die fälligen Zinsraten zu zahlen.
Obwohl es in diesem Referat an der Nürnberger Straße um viel Geld geht und die Verlockung damit besonders groß ist, einen „unauffälligen Teil“ in die eigene Tasche zu wirtschaften, gibt es keine besondere Form der Kontrolle. Abteilungsleiter Dieter Söllner vertraut seinen Mitarbeitern. Er behauptet sogar, es gebe gar keine Möglichkeit zu betrügen. Söllner flunkert da ein wenig. Denn niemand weiß besser Bescheid über die Gewinn- oder Verlustspanne bei Kredittransfers als er selbst.
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