■ Silvester: Von Torsten Preuß Dritte Folge
Unser Mann kommt von Prag, schleicht sich nachts über die grüne Grenze zwischen ČSSR und DDR und kommt halb erfroren, noch immer voller Angst, aber auch stolz in Dresden an. Die taz-Geschichte von einem, der trotz Einreiseverbot 1984 in Dresden Silvester feiert, erscheint bis zum 30.12. 1995 taztäglich (1. und 2. Folge am 20. und 21.12. 1995).
Er dachte an eine Zigarette und daran, daß er früher mit seinen Freunden oft quer durch die DDR mit dem Zug gefahren ist, ohne zu bezahlen. Zu dritt auf dem Klo oder dank eines selbstgefertigten Vierkants in den abgeschlossenenen Liegewagen der Züge, die aus dem Ausland kamen.
Meistens sind sie so zu Blues- oder Punkkonzerten in einen Dorfsaal irgendwo in die Provinz gefahren.
Manchmal auch nach Berlin.
Zweimal im Jahr fuhr er mit seinen Kumpels von Dresden in die Hauptstadt, um die Live-Übertragung des „Rockpalastes“ aus der Essener Grugahalle mitzuerleben. Die Parties hatten meistens in irgendeiner Hinterhofwohnung stattgefunden.
Es war immer lustig gewesen.
Sie trafen Leute aus der ganzen Republik, es wurde getanzt, diskutiert und gesoffen – die wenigsten hielten bis früh durch. Aber irgend jemand schnitt die Konzerte immer mit.
Manchmal wurden sie damals beim Schwarzfahren erwischt. Wer weder Geld noch Ausweis bei sich hatte, den übergab der Schaffner, den alle nur „Öler“ nannten, am nächsten Halt der Transportpolizei. Die stellte dann zuerst die Personalien fest.
So gesehen hatte er wirklich Glück, daß ihm seine Freunde in Prag noch DDR-Geld mitgegeben hatten. Damit hatte er die 20 Mark Strafe bar bezahlt, dem Schaffner war der Ausweis dann egal gewesen.
Er mußte noch vorsichtiger sein, dachte er, als er in die kleine Gasse einbog, an deren Ende der Treffpunkt stand.
Sie nannten es „Hexenhaus“. Es lag am Stadtrand, in Sichtweite der Elbe. Das Grundstück hatte zwei Gebäude. In dem einen hatten sie einen Proberaum eingerichtet, in dem die Dresdener Punkband Paranoia spielte. Das zweite Gebäude war das Wohnhaus.
Das Grundstück hatten sie zwei Jahre vorher ausgerechnet einem Funktionär abgekauft, der aus dem Geschäft keinen Vorteil schlagen wollte.
6.000 Mark der DDR – das war ein fairer Preis. Und nachdem sie sich das Geld zusammengeliehen hatten, wurde das „Hexenhaus“ ein Freiraum für alle, die anders waren. Hier sollte er sich während seines Aufenthalts verstecken.
Das Tor quietschte, als er es öffnete und in den Garten trat. Sie ölten es nie, denn das Geräusch kündigte einen eventuellen Besuch der Staatsmacht schon an, bevor dieser sie überraschen konnte.
Als das Gartentor ins Schloß fiel, ging die Haustür auf.
Alle stürmten ihm entgegen.
Eine halbe Stunde später stieg er langsam in die Badewanne.
Er fühlte sich wie ein Schneemann in der Mikrowelle.
Es war noch verdammt früh, als er am nächsten Morgen im feuchten Gras am Ufer der Elbe hockte und mit müdem Blick der dunklen Brühe zusah, wie sie Richtung Hamburg floß.
Sie hatten die halbe Nacht geredet, die andere Hälfte hatte er mit seiner Freundin und seinem Sohn verbracht.
Bis jetzt war wirklich alles glatt gegangen.
Er schmiß ein Stück Eis ins Wasser. Schneewolken zogen auf.
Er dachte nach.
Sie konnten das Haus nicht einfach abschließen. Schon gar nicht zu Silvester. Die Hütte würde voll sein, wenn die Party steigt.
Er wußte nicht, wer alles kommen würde. Niemand hatte hier Telefon, keiner meldete sich an.
Gewöhnlich kam jeder vorbei, wann er wollte. Das war schon immer so gewesen, und deshalb brauchte er eine gute Erklärung dafür, daß er hier war.
Er entschied sich für eine „Sondereinreisegenehmigung“, die die Regierung der DDR allen Familienvätern, deren Kinder noch in der DDR lebten, über Weihnachten und Silvester angeblich auf Antrag erteilt hätte. Richtig überzeugend fand er das nicht.
„Wer würde das schon glauben“, dachte er. „Bei dieser Regierung?“
Aber etwas Besseres fiel ihm nicht ein, und dann ging er den kleinen Weg hoch zum Bäcker. Er kaufte 20 frische Semmeln für 2 Mark, hielt die Tüte beim Laufen dicht vor seine Nase und freute sich aufs Frühstück. Im Westen waren die Brötchen eine einzige Enttäuschung.Fortsetzung folgt
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