: Schöne Bescherung
Vom „Zauber der Mechanik“ und dem „Unsagbar Bösen“, oder: Wann ist am Heiligen Abend eigentlich „Prime time“?
Früher, ja früher da war alles irgendwie besinnlicher – oder zumindest anders. Da feierten wir die Heilige Nacht im Kreise der Familie unter dem Weihnachtsbaum – und nicht etwa vor dem Fernseher. Wohl schon aus purer Not, denn das, was uns die Wunderkiste in der „Stillen Nacht“ anbot, war tatsächlich weitestgehend nur Flimmern und Rauschen. Lediglich von 20 Uhr bis 21.30 Uhr machte der seinerzeit allein sendende NWDR am Heiligen Abend 1953 überhaupt Programm. Für die Alleingebliebenen vor allem.
Mit den Jahren wurde dann alles immer mehr: mehr Sender, mehr Programm, mehr Zuschauer, mehr Familienprobleme. Inzwischen ist das Fernsehen mit seinen über dreißig Programmen gar nicht mehr wegzudenken aus unserem häuslichen Leben. Wie die Wissenschaft längst festgestellt hat, lassen wir uns in der Gestaltung unseres Tagesablaufs von den Fernsehdirektoren programmieren: Wir frühstücken mit dem „Morgenmagazin“, trinken Kaffee mit „Ilona Christen“, schalten von der Arbeit ab mit dem „Marienhof“, und nach dem Abendbrot versammelt sich die Familie dann bei Sabine Christiansen vor der „Tagesschau“. „Prime time“ nennt der Fachmann diesen Moment, wo dann endlich zusammen schaut, was zusammengehört.
Aber am Heiligen Abend bleibt die Glotze doch wohl aus, möchte man meinen. An diesem einen Tag müßte doch alles anders sein als sonst. Aufgeregt hampeln die lieben Kleinen in den frühen Morgenstunden vor dem letzten Türchen ihres Adventskalenders herum, dann geht Papa den Baum holen und Mama in die Küche. Gegen fünf kommt endlich Oma, um die Enkelkinder abzulenken, und spätestens um acht ist schließlich Bescherung – wo es vielleicht Fernseher gibt, die aber eben nicht angeschaltet werden. Ist es so? Schauen wir zurück auf das vergangene Jahr.
Gemäß den unchristlichen Quoten-Hochrechnungen der GfK begannen letztes Jahr am Heiligen Morgen 60.000 Deutsche das Warten aufs Christkind in aller Herrgottsfrühe mit der ARD-Sendung „Der Tannenbaum“. Um 7.24 Uhr meldete sich RTL2 zeitgemäß mit der „Biblischen Hitparade“ (90.000). Und um 9.38 Uhr zeigte Pro7 eine Sendung mit dem sinnreichen Titel „Taz-Mania“. Da schauten immerhin schon 220.000 Zaungäste zu – etwa halb so viele, wie die taz Leser hat.
Zugegeben: Die ARD-Quote dümpelte am 24.12. vergangenen Jahres eine Weile bei müden 60.000 dahin. Insgesamt schaltete, so die kulturoptimistisch frohe Botschaft, immerhin noch die Hälfte der heiligen Sehgemeinde den Fernseher an diesem Tag ab. Um 13.25 Uhr schielten bei der „Tagesschau“ aber trotzdem schon 1,21 Millionen über den Mittagstisch zur Mattscheibe, in der sich wohl schon die Elektrokerzen des Weihnachtsbaums spiegelten. Was aber wohl die halbe Million Zuschauer bewogen haben wird, sich ab halb eins durch die ZDF-Bildungsprogrammperle „Zauber der Mechanik“ zu arbeiten? Tips zum umfallsicheren Aufbau des Tannenbaums? Immerhin eine glatte Million Zuschauer hatte am 24. 12. 1994 um 14.14 Uhr die Weihnachtsbesorgungen schon hinter sich, als „Der Giftzwerg namens Luis“ seine Funessen auf Pro7 trieb. RTL2-Zuschauern schmückten unterdessen noch den Tannenbaum. Hier sackte bei den „Abenteuern des Pinoccio“ (14.23 Uhr) die Quote auf schlappe 630.000 Zuschauer ab. Jedoch nur, um um 17.21 Uhr mit „Das letzte Einhorn“ respektable eineinhalb Millionen vorzulegen. Damit schlugen sie glatt die 1,14 Millionen der „Vier Halunken der Köngin“ auf Sat.1.
Je näher die Bescherung rückte, desto mehr Augenpaare hefteten sich erwartungsfroh nicht etwa auf die verschlossene Wohnzimmertür, sondern auf die Mattscheibe. RTL verzeichnete zwischen „Mein Freund Bud“ (gegen 17.00 Uhr) und „Eine schrecklich nette Familie“ (direkt nach „Heute“ im ZDF) einen Sprung von eineinhalb auf knapp drei Millionen Zuschauer. Mit den nachfolgend einreitenden Cartwrights und der „Stadt in Flammen“ hielten sich die Kölner zur Bescherungs-Prime-time zwischen drei und dreieinhalb Millionen. Das ZDF konnte mit seinen „Weihnachtsliedern aus Wernigerode“ (2,16 Mio.) löblich gut mithalten und erzielte mit der Bescherung des „Wetters“ schließlich seinen Tageshöchstwert (4,22 Mio.). Leise rieselte der Schnee.
Als dann aber die „Tagesschau“-Fanfare in die stille, heilige Nacht tönte, legten tatsächlich 4,6 Millionen Deutsche in aller Andacht ihre Geschenke beiseite, um sich darüber zu informmieren, ob uns nicht vielleicht wieder irgendwo in der Welt ein Heiland geboren ward.
War es Enttäuschung, Übersättigung oder gar konsequent angewandte Blasphemie, daß zu später Stunde, als der ganze heilige Zauber endlich vorüber war, die Oma wieder zu Hause und die Nachkommenschaft im Bett, ausgerechnet „Das unsagbar Böse“ (um 0.23 Uhr, RTL) mit einem Marktanteil von 30,7 Prozent (1,88 Mio.) den höchsten Marktanteil des Tages erzielte? In diesem appetitlichen Horrorfilm von Jack Sholder geht es immerhin darum, daß ein außerirdisches Wesen in Gestalt einer halb verdauten Weihnachtsgans immer wieder erbrochen wird. Mit den Worten des Killers aus „Blast of Silence“: „Christmas, it gives you the creeps.“ marie/klab
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