piwik no script img

Frohes Fest in der Kleinen Oase Von Michael Rudolf

Weihnacht ist, und kein Bier mehr im Haus. Da bleibt nur ein Spaziergang zur Kleinen Oase, ein Imbißverschlag am Busbahnhof.

Gewaltbereites Stimmengewirr und muntere Kloakenbächlein weisen den Weg. Hier gibt es Bier, Schaumwein und Schnaps in kleinen Flaschen, Bockwürstchen, Bouletten, Salzstangen, Versandhausschnitzel, Krammetsvögel. Alles. Und das bei einer Preisgestaltung, die jeglicher marktwirtschaftlicher Überlieferung hohnspricht.

Eine vergnügliche Runde wärmt sich hier gegenseitig. In der Ecke sitzt die bleichsüchtige Gitti. Gitti ist nicht ganz richtig im Kopf und stellt ihre vor Jahresfrist erlittene Fehlgeburt nun täglich mit wechselnden Plüschtieren nach. Schon die Art, wie sie die Beine aus- und übereinanderzuschlagen pflegt: Daß man ihr durch die Schamfuge bis in den Rachenraum schauen kann. Eine anatomische Unmöglichkeit, aber von den Umsitzenden trotzdem lebhaft und kontrovers diskutiert. Eisig leckt der Wind an meiner Nase.

Kurz vor mir waren Emissäre der aus vermutlich niederen Motiven ausgesperrten Trinkgemeinschaft vom benachbarten Soundsoplatz, drei an der Zahl, eingetroffen und bereits großzügig mit herabwürdigenden Äußerungen überzogen worden, vor allem, was niedrige und uneheliche Herkunft anbetraf. Mit Interesse verfolgen sie den ersten Ansturm und verlesen anschließend eine Grußadresse, die dezidierten Versöhnungswillen zum Ausdruck bringt. Mündlich fassen sie ihre Sorgen in der Forderung zusammen, auch fürder hier Bier kaufen zu dürfen. Außerdem, so betonen sie, wolle der Kurt die Gitti wiederhaben. Der fundamentalistische Flügel kräht wiederholt derbste Unterstellungen in den Eishimmel. Gitti seufzt engagiert, und die Realos signalisieren nonverbale Zustimmung, indem sie stoisch weiter ihre Brühwürfel lutschen oder arhythmisch in die Luft beißen.

Eine schielende Katze schlürft verstohlen ausgeworfene Konservierungsmittel auf. Gitti aber hebt pötzlich fürchterlich zu schreien an, verrenkt sich obszön und läßt unter martialischem Quieken einen schroff mißhandelt wirkenden Teddy aus ihrem Rock in den Schnee plumpsen, schlafft ab und wünscht, unverzüglich mit heißem Wasser begossen zu werden. „Meint es der Kurt denn ernst?“ läßt sich Gittis Bruder vernehmen, bevor das Bier sein Verständnis für den Segen des Gleichgewichtes außer Kraft setzt und er vom Stuhl fällt. Die Abgesandten bejahen kräftig. Auch die bisher Unbeteiligten zeigen sich nun einsichtig und sprechen sich dafür aus, den Leuten vom Soundsoplatz wieder Bier zu verkaufen. Mit den knappen Worten „Ja, Kurt, der blöde Arsch!“ bringt auch Gitti ihren Standpunkt in die Debatte ein. Hastig stapfen die drei abgerissenen Gestalten davon, leere Flaschen und Geld sammeln.

„Das war ja eine schwere Geburt“, höre ich den Wirt entnervt in meine Richtung sagen. Zwiebulöser Brodem begleitet seine Worte, und fast möchte ich behaupten, daß sein Gebiß eines ordnenden Prinzps entbehrt. „So geht das nämlich jeden Tag“, schiebt er hinterher, während er mir zehn Flaschen aushändigt.

Zufrieden trotte ich heim, an den Kloakenbächlein entlang. Und auch in der Kleinen Oase kehrt weihnachtlicher Friede ein.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen