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Um Jahrhunderte zurückgeworfen

Nach dem Vertrag von Dayton: Anarchie, Schmuggelwirtschaft, Unfähigkeit der politischen Parteien  ■ Von Dubravko Lovrenović

Kulturen sind niemals immanent feindlich. Sie werden es in dem Moment, wo sie von dämonischen Ideen instrumentalisiert werden. (Vitomir Lukić)

Wir Bosnier aller Nationen und Religionen, die Bosnien bis zum Krieg als Paradigma der Koexistenz verschiedener Zivilisationen gelebt haben, die seinen betäubenden Duft zwischen Bihać und Foča, Bijeljina und Trebinje geatmet haben, die wissen, daß mit etwas politischem Willen und ein paar Illusionen, die den realen, lebenden Menschen nicht ausschließen, alles hätte anders sein können, lassen uns nicht von der sterilen Rhetorik aus den politischen Laboratorien betrügen. Wir wissen aus eigener Erfahrung (auch der des Krieges), daß in Bosnien nicht Völker oder Religionen gegeneinander kämpfen. In Bosnien, das ist die nackte Wahrheit, wird nur und einzig um Territorien Krieg geführt, was bedeutet, daß der wahre Anlaß dieses Krieges geopolitischer Natur ist.

Den Vorwand für den neuesten Kriegssturm auf dem Balkan lieferte bereits 1836 Vuk Stefanović Karadžić, einer der Gründerväter des serbischen Nationalchauvinismus, in einem politischen Pamphlet mit bedeutungsschwangerem Titel („Serben alle und überall“), das absurderweise 1849 in Wien publiziert wurde. Seitdem bis zum heutigen Tag, bis zur kürzlichen Erklärung des ehemaligen UN-Beauftragten für Exjugoslawien, Thorvald Stoltenberg, daß Kroaten und Muslime eigentlich Serben seien, hat die serbische Intelligenz – mit rühmlichen Ausnahmen wie Ilarion Ruvarac, Jovan Skerlić, Bogdan Bogdanović und Mirko Kovać – die Öffentlichkeit im In- und Ausland mit pseudowissenschaftlichen Werken über den angeblich serbischen Charakter Bosniens und der Herzegowina vergiftet, was seinen Ausdruck in den Werken von Jovan Cvijić fand, der Anfang des 20. Jahrhunderts als einer der führenden Balkanologen galt. Als sich 1907, am Vorabend der Annexion Bosniens und der Herzegowina durch Österreich- Ungarn, die Krise um dieses Land zuspitzte, schrieb Cvijić: „... wir sind ein nationalpolitisch gefährliches Land. Die Welt muß wissen, daß Serbien mit einem viel größeren Ganzen als seinem Territorium operieren kann. Von Serbien können die größten territorialen Transformationen ausgehen. Man darf sich nicht scheuen, der Welt diese Angst einzuflößen, wenn es unseren nationalen Interessen nützt.“

Prononcierte Chauvinisten dieses Typs waren an der Friedenskonferenz in Versailles 1918/19 beteiligt, wo als Ergebnis des Ersten Weltkriegs und des Sieges der anglo-französischen Koalition, aber auch der einigenden südslawischen Idee, wie sie große Kroaten wie Rački und Supilo vertraten, das erste Jugoslawien geschaffen wurde. Daß es gleich darauf zur bloßen „Metapher eines Großserbien“ wurde, ähnlich wie übrigens auch seine sozialistische, titoistische Version, ist eine andere Geschichte.

Als Mitte der achtziger Jahre die „Weltklassen“-Ideologie und mit ihr das Sowjetreich zwischen Fernem Osten und der Adria zusammenbrach, produzierte die um die Belgrader Akademie der Wissenschaften versammelte serbische Intelligenz das berüchtigte Memorandum (dessen Autorschaft sie jetzt leugnet) – das Programm, mit dem man unter der Losung „Alle Serben in einem Staat?“ an die endgültige Umwandlung des bisherigen Jugoslawien in ein Großserbien herangehen sollte.

Einer der Schöpfer dieses Dokuments, der Historiker M. Ekmečić aus Sarajevo, erklärte zur Definition seiner Haltung gegenüber den Muslimen am Vorabend des Krieges, die Serben vollendeten jetzt ihre mit dem ersten Aufstand von 1904 begonnene Befreiungsbewegung. Für das Akademiemitglied Ekmečić waren also offenbar nicht fast zwei Jahrhunderte vergangen, die Uhr der Geschichte in seinem Kopf wurde in all der Zeit kein einziges Mal aufgezogen!

Solche „freiwilligen Spender fremden Blutes“, wie Stojan Cerović die grauen serbischen Köpfe nannte, sind die wirklichen Schöpfer aller Tragödien wie Vukovar, Dubrovnik, Srebrenica, Žepa, Goražde... zuerst sie, und erst danach feuerten ihre Knechte R. Karadžić und R. Mladić mehrere Millionen Projektile auf Sarajevo, ihr „Verdienst“ sind Hunderttausende von Toten und Verletzten, Millionen von Vertriebenen. Gerechterweise müßten sie als erste vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag und vor dem serbischen Volk Rechenschaft ablegen, um es vom Makel der kollektiven Schuld reinzuwaschen, und vor den anderen Völkern, deren Unglück sie kaltblütig herbeigeführt haben.

Der in Belgrad geplante und schon nach Titos Tod präzise realisierte Zerfall Jugoslawiens hat Bosnien und die Herzegowina am tragischsten betroffen. Noch ist nicht die Zeit für eine umfassende Einschätzung der Ereignisse, aber schon jetzt kann man mit Sicherheit sagen, daß Bosnien und die Herzegowina mit der Hauptstadt Sarajevo zum erschreckenden Symbol einer neuen Umstrukturierung der Macht auf dem Globus geworden sind, die sich anstelle der bisherigen Teilung in Ideologien und Blöcke mit dem Schwerpunkt auf zivilisatorisch-religiösen Parametern abspielt. Dieses, wie I. Lovrenović sagt, „vor dem Krieg (...) sanfteste und wehrloseste Land der Welt“ konnte der Gewalt der internationalen Gefühllosigkeit und inneren Destruktion durch rasende Nationalismen nicht standhalten, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus mit Hilfe zahlreicher Ekmečićs den Status einer neuen staatspolitischen Rechtgläubigkeit erhielten. Als in Jahrhunderten sedimentierte, auf komplizierten und sensiblen Wechselbeziehungen verschiedener Kulturen und Zivilisationen gegründete besondere Gesellschaft, die weder Gelegenheit noch Zeit hatte, sich als politisch unabhängiges Gebilde zu konstituieren, hat Bosnien den Blutzoll für die Durchführung neuer globaler politischer Konzepte bezahlt, die vor allem auf dem Prinzip der sogenannten ethnischen Souveränität (Volk = Staat) beruhen.

Durch die historischen Umstände, die in der Regel tragisch und der Erhaltung so komplizierter Gebilde abträglich waren, hatte jedes der bosnischen Völker (Kroaten, Serben, Muslime und Juden) seinen „geistigen und politischen Mittelpunkt jenseits des eigenen Lebensmilieus“, was in der Bildung jener spezifischen „dialektischen Identität“ resultierte, wie sie der Münchener Historiker Srečko M. Džaja definierte: „Wir sind alle Bosnier, aber unser Bosniertum hat in Anbetracht unserer zivilisatorischen Zugehörigkeit mehr Variablen als Konstanten.“

Auf dieser Basis entstand und erhielt sich eine eigene Spannung zwischen dem Bosniertum als gemeinsamem, übernationalem Erbe einerseits und den „ethnisch-konfessionellen und kulturhistorischen Traditionen als eigenen Individualitäten“ andererseits... An diesem Beispiel erweist sich die ganze Wahrheit von Skerlićs Behauptung, daß die Geschichte des Balkans strukturell anders ist als etwa die Geschichte Italiens, Frankreichs oder Deutschlands und daß die „jugoslawische Gemeinschaft auf dem Fundament allgemeiner, individueller und breiter religiöser Gleichgültigkeit bestehen kann oder gar nicht“.

Wer sich nicht von äußeren Effekten blenden läßt und zwischen den Zeilen lesen kann, durchschaut Hintergrund und Reichweite der „Friedens“vereinbarung von Dayton. Die erzwungenen Unterschriften werfen Bosnien und Herzegowina unter dem Patronat der sogenannten internationalen Gemeinschaft um Jahrhunderte zurück in die Ära eines fanatischen Konfessionalismus, des Isolationismus, der feudalen Anarchie und Schmuggelwirtschaft. Die nationalen (vielmehr rigid nationalistischen) politischen Parteien, die in den vergangenen Jahren einzig imstande waren, die Kriegshysterie zu schüren, die, vergessen wir das nicht, nach den ersten freien Wahlen lauthals Frieden und Prosperität versprachen, können keine einzige der brennenden Fragen nach der Entwicklung dieses Landes und seinem Anschluß an die modernen Strömungen der Welt lösen. So führen die Unterschriften aus Dayton Bosnien und die Herzegowina in ein Interregnum, ein staatspolitisches Vakuum, gekennzeichnet durch einen Prozeß der weiteren „humanen“ Umsiedlung der den großstaatlichen Konzepten ihrer Führer geopferten Völker.

Das Schicksal des Staates selbst in alldem ist äußerst ungewiß und vernebelt, allerdings fällt es schwer zu glauben, daß es mit den Programmen der drei nationalen Parteien, die einander a priori ausschließen, auch nur eine Funktion eines stabilen modernen Gemeinwesens ausüben kann. Verpaßt wurde die große historische Chance, das bosnisch-herzegowinische Territorium entsprechend seiner wahren multikulturellen Natur und den modernen Entwicklungstrends zu gestalten. Daß alles so enden würde, hätte man schon wissen können, als die Vertreter der drei nationalen Parteien 1992 in Lissabon ihre Unterschriften auf die Karte der ethnischen Teilung Bosniens und der Herzegowina setzten. Schon damals siegte das rigide ethnische Prinzip, der darauf folgende Krieg war nur das logische Mittel seiner praktischen Verwirklichung.

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