: Islamische Bescherung in Ankara
■ Bei den türkischen Parlamentswahlen siegt die islamistische „Wohlfahrtspartei“. An der künftigen Regierung wird sie dennoch nicht beteiligt sein. Die zurückgetretene Ministerpräsidentin Çiller bastelt bereits an neuen Koalitionen
Istanbul (taz) – Der Wahlabend am 24. Dezember brachte den Türken eine schöne Bescherung. Mit gut 21 Prozent setzte sich die islamistische Wohlfahrtspartei (Refah) an die Spitze.
Ihren Sieg verdanken die Islamisten der Konkurrenz im rechtsbürgerlichen Lager. Obwohl programmatisch kaum voneinander zu unterscheiden, nahmen sich die Partei der Ministerpräsidentin Tansu Çiller, DYP, und die vom früheren Staatspräsidenten Turgut Özal gegründete Mutterlandspartei (Anap) gegenseitig die Stimmen weg und brachten es auf jeweils knapp 20 Prozent.
Die Spaltung des bürgerlichen Blocks geht auch auf die persönliche Konkurrenz von Tansu Çiller und dem derzeitigen Anap-Chef Mesut Yilmaz zurück. Beide werden nun wohl entweder ihren Zwist begraben und miteinander kooperieren oder aber von ihrer jeweiligen Parteibasis zum Rücktritt gezwungen werden. Einigkeit herrscht im bürgerlichen Lager jedenfalls so weit, daß die Wohlfahrtspartei auf keinen Fall an der Regierung beteiligt werden soll.
Für die Linke und insbesondere die kurdisch dominierte linke Hadep war die Wahl eine arge Enttäuschung. Hadep konnte lediglich in den kurdischen Provinzen des Landes gute bis sehr gute Ergebnisse erzielen, in den Elendsgürteln der westlichen Großstädte, vor allem in Istanbul, blieben ihre Ergebnisse weit hinter den Erwartungen zurück. Mit landesweit vier Prozent waren sie weit davon entfernt, die Zehnprozenthürde für den Einzug ins Parlament zu überwinden.
Geschafft haben diesen Sprung die linksnationalistische DSP unter dem früheren Ministerpräsidenten Bülent Ecevit und die bisher an der Regierung beteiligte CHP. Wahrscheinlich wird eine der beiden Parteien erneut an der Regierung beteiligt werden, da DYP und Anap auch gemeinsam noch keine Mehrheit der Mandate zusammenbekommen.
Allgemein gehen die meisten politischen Beobachter in der Türkei davon aus, daß das jetzige Wahlergebnis das Land nicht weiterbringt. Das Wahlergebnis zwingt die kommende Regierung zu keiner politischen Lösung der Kurdenfrage, und gegenüber den Islamisten wird man weiter so taktieren wie bislang. Schon jetzt hatten Funktionäre der Refah die Parole ausgegeben, die eigentliche Entscheidung zwischen der säkularen Republik und dem islamischen Weg werde bei den kommenden Wahlen fallen.
Die bisherige Ministerpräsidentin Tansu Çiller erklärte angesichts des Wahldebakels ihrer Partei ihren Rücktritt. Gestern traf sie sich in Ankara mit Mesut Yilmaz. Nach den Gesprächen bekundeten beide vor Journalisten ihre „grundsätzliche Bereitschaft zur Bildung einer Koalition auf breiter Basis“. Auch die Parteichefs der im Parlament vertretenen sozialdemokratischen Parteien seien zu konstruktiver Zusammenarbeit bereit. Zuvor war Yilmaz mit Bülent Ecevit (DSP) zusammengekommen, Çiller traf ihren bisherigen Koalitionspartner Deniz Baykal von der Republikanischen Volkspartei (CHP). Jürgen Gottschlich
Seiten 3 und 11
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen