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Kleines reiches Land und der Hang zum Psychokult

■ Würden Sekten in der Schweiz verboten, kämen die Behörden ins Rotieren

Seit dem jüngsten Sektendrama wird in der Schweiz die Forderung nach einem Verbot des Sonnentemplerordens und anderer gefährlicher Sekten wieder laut. Sektenspezialisten wie der Zürcher Professor Georg Schmid allerdings sind überzeugt, daß das Drama so nicht hätte verhindert werden können. „Wenn sich die Sektenmitglieder treffen wollen, können sie das auch unter Verbot tun“, erklärte Schmid, der als Kopräsident einer von den evangelischen und katholischen Kirchen der Schweiz getragenen Arbeitsgruppe „Neue religiöse Bewegungen“ fungiert. Die Gefahr der Sonnentempler gehe vor allem von der esoterischen und geheimbündlerischen Verharmlosung des Todes aus. Die Sektenmitglieder sprächen nicht mit Außenstehenden über ihre Vereinigung, die Außenwelt werde abgewertet und als schwarz empfunden.

Auch Vertreter von Regierung und Justizbehörden sowie Rechtsexperten widerprechen der Verbotsforderung. Sie verweisen auf die geltende Rechtslage und das Prinzip der Glaubensfreiheit sowie auf pragmatische Gründe. Zur Einstufung einer Organisation als kriminelle Vereinigung müsse laut Schweizer Strafrecht nachgewiesen werden, daß diese zum Zwecke krimineller Taten gegründet wurde. Außerdem müßten sich die Taten gegen Außenstehende richten. Beide Kriterien seien im Fall des Sonnentemplerordnes nicht erfüllt. Zudem, so der Genfer Untersuchungsrichter Daniel Dumartheray, habe es bislang „leider keine Kläger“ gegeben.

Zu den Massentötungen sagt Dumartheray schlicht: „Jeder darf sich das Leben nehmen.“ Zwar räumt er ein, daß die drei Kinder unter den Toten von Saint-Pierre- de-Cherennes „natürlich nicht freiwillig in den Tod gegangen sind“. Aber selbst in diesem Fall hätte die Justiz allerhöchstens „die Möglichkeit gehabt, ein zivilrechtliches Vormundschaftsverfahren einzuleiten“. Es sei „fraglich“, ob der Tod der Kinder damit hätte vermieden werden können. Im übrigen: „Wie sollten wir diese Sekte verbieten und eine andere nicht.“ Hier käme auf die eidgenössischen Behörden eine große Aufgabe zu. Die Schweiz gilt als fruchtbarer Nährboden für Sekten und Psychokulte. Professor Schmid hat rund 600 sektenähnliche Gruppierungen gezählt, von denen die meisten für sich in Anspruch nehmen, die ausschließliche Wahrheit gepachtet zu haben.

Eine „Sekte“ ist laut Schmid eine Gruppe, die eine mythische Gegenwelt aufbaut und die reale Außenwelt ausblendet oder verteufelt. Der Waadtländer Sektenexperte Paul Ranc spricht für die Schweiz von 200 Gruppierungen mit drei übereinstimmenden Kennzeichen: ein allmächtiger Führer, der keinen Widerspruch duldet, psychologischer Druck bis hin zur Gehirnwäsche und Geldbeschaffung nach dem Motto „Leeret Eure Bankkonten und folget mir.“

Als Gründe für die reichhaltige Sektenkultur sehen Schmid und Ranc die Rolle der Schweiz als internationale Drehscheibe für Geldwäsche, den zunehmenden Werteverlust und den materiellen Wohlstand. Reiche, aber unglückliche Menschen sind laut Schmid die besten Kunden: „Materiell gesichert, rational funktionstüchtig, emotional ein Embryo auf der Suche nach einer Urmutter oder einem Urvater.“

Ranc sieht eine weitere Ursache in der zumindest in Sachen Glaubensgemeinschaften liberalen Gesetzgebung. Diese allerdings wirkt zur Zeit zunehmend wie eine Ausrede von Behörden, die noch bis vor wenigen Jahren über fast eine Million Bürger – ein Sechstel der Bevölkerung – wegen ihrer politischen Überzeugungen und Aktivitäten – Geheimakten anlegte. Ob und inwieweit Sektenmitglieder auch in Polizei, Behörden, Parlament oder staatsstragenden Vereinigungen vertreten sind, wird bislang nur spekuliert. Die Tatsache, daß unter den 16 Toten bei Grenoble auch zwei Polizisten waren, muß in Frankreich wie in der Schweiz noch genauere Nachforschungen auslösen.

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