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„Ich will nicht neben Fussel sitzen“

Was die Eltern einst schockieren sollte, wird heute von ihnen bezahlt – das Broadway-Musical „Hair“ im ICC ist zum Historical geworden. Glücklich macht es offensichtlich aber trotzdem  ■ Von Anne Winter

Für das Weihnachtsmärchen im Theater sind die meisten schon ein bißchen zu alt. Aber 30 oder älter sind sie dann auch wieder nicht. Die Begrüßung im ICC ist auf ein jugendliches Publikum abgestimmt: „Rauchen und Getränke mitzubringen ist im Saal verboten“, lautet die barsche Ansage. Wunderkerzen sind auch nicht erlaubt – wer seine Begeisterung über „Hair“ optisch kundtun will, kann dazu wippende Leuchtstäbe benutzen. Aber solch hartgesottene Fans sind ohnehin die Ausnahme.

Das Broadway-Musical, Sinnbild der Flower-power-Generation, wirkt heute weder gewagt noch antibürgerlich, und über die Four-letter-words empört sich längst niemand mehr. Übriggeblieben ist ein Stück, in das Eltern kurz vor Jahreswechsel ihre Kinder schleppen, um ihnen zu zeigen, wie sie damals drauf waren. Die, die damals nicht so drauf waren, gehen enttäuscht bereits nach der Pause: „Ist doch alles nur Gehopse und ein Lied nach dem anderen!“

Viel Handlung hat „Hair“ tatsächlich nicht zu bieten, und das Profil der beiden Hauptfiguren Claude und Berger geht in dem ständigen „Gehopse“ etwas unter – aber der innere Kampf um Anpassung oder Rebellion interessiert hier ohnehin nicht mehr. Die Kids haben sich bereits entschieden. Die Hippiebewegung ist ein modischer Trend wie jeder andere, das passende Outfit gibt es bei H&M. Die Musik von „Hair“ ist offensichtlich wieder angesagt, artig beklatschen die Jugendlichen jeden Song, der von der Bühne schallt.

Der Veranstalter nutzt die Gunst der Stunde und hält die passende CD für stolze 35 Mark bereit, des weiteren T-Shirts (30 Mark), Caps (10 Mark) und Feuerzeuge (5 Mark). Wer 50 Mark für seine Eintrittskarte löhnt, wird sicher gern in solche Devotionalien investieren. Glücklich blättern zwei Mädels in Blümchenblusen und Blumen auf Stirn und Haar ihr Taschengeld auf den Tresen und ziehen mit Aufkleber und T-Shirt zufrieden ab. Nun kann morgen jeder sehen, daß sie dabei waren. Ein Programmheft gibt es übrigens nicht. Wozu auch, alles, was wir schon immer über „Hair“ und die Broadway-Musical-Company New York wissen wollten, wissen wir längst oder wollen es gar nicht wissen.

„Make love not war“ und „Save water – shower with a friend“ steht auf den Schildern, die die Blumenkinder auf der Bühne fröhlich protestierend herumtragen. Die Kids quittieren die Demo mit freundlichem Beifall. Alle Eltern sollten ihren Kindern sagen, „be free“, erklärt eine niedliche alte Dame auf der Bühne. Großer Applaus. Irgendwann steht das gesamte Ensemble in gedämpftem Licht nackt vor dem Publikum. Tosender Beifall. Kaum vorstellbar, daß diese Szene mal irgendwann etwas Anstößiges hatte.

Anstoß könnte daran heute höchstens die Bekleidungsindustrie nehmen, mit Nackten ist schließlich kein Umsatz zu machen. Mit vorgebleichten Jeans, in denen die Löcher schon drin sind, dagegen schon. Was einst die Eltern schockieren sollte, wird heute von ihnen bezahlt. Voll Dankbarkeit über den schönen Abend hakt sich die 16jährige im Hirtenmantel bei Vati unter. Die Mutter indes geht auf Sicherheitsabstand: „Ich will nicht neben Fussel sitzen.“ Nachsichtig lächelnd zupft das Familienoberhaupt sich die dicken Flusen, die Töchterleins Mantel absondert, vom Jackett. Von Generationskonflikt keine Spur.

Das Zeitalter des Wassermanns, das im Musical besungen wird, die Ära des Friedens mit sich und der Welt, ist knapp 30 Jahre nach der Uraufführung zumindest im ICC gelebte Realität. Eltern sind ihren Kindern bei der Selbstfindung behilflich und teilen ihren Musikgeschmack. Wogegen sollen die Kids sich da noch auflehnen? Mit einem Joint vielleicht? Zwei wagemutige Mädchen bringen es in den sterilen Hallen tatsächlich fertig, auf dem Boden hockend kiffenderweise für ein bißchen Hippie-Revival zu sorgen – und werden wohlwollend belächelt. Ein gepierctes Pärchen knutscht hingebungsvoll – keiner guckt hin. Die freie Liebe, die auf der Bühne fröhlich vögelnd zelebriert wird, wirkt wie ein sauberes Fitneßtraining. Absolut jugendfrei.

Nach drei Stunden Musik und Tanz sieht man auf dem Nachhauseweg nur glückliche Gesichter. Soviel Friede, Freude und Eierkuchen war nie. Was wir aus dem Weihnachtsmärchen gelernt haben? Daß Liebe machen schöner ist als Krieg – und deshalb holen wir uns gleich morgen ein dickes Peace-Zeichen. Gibt's sicher bei H&M.

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