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Das kaputte Auto, Island, Christo und nicht zuletzt die Wiederkehr der Dronte

■ Jahresendzeit. Zeit, über das endende Jahr zu sinnieren. Wir wandten uns an Berliner Kulturschaffende, sie antworteten auf folgende Fragen: 1. „Was hätten Sie 1995 am liebsten verhindert?“ 2. „Welches Ereignis hätten Sie 1995 gern erlebt?“

Olav Westphalen alias Rattelschneck (Künstler und Cartoonist)

1.: „Daß Catherine David mich anruft und sagt: ,Herzlichen Glückwunsch, Sie sind in der documenta! Allerdings machen wir es diesmal alles ganz anders, als Einzelausstellung nur mit Ihnen und viel größer als sonst.' Worauf ich gesagt hätte: ,Ach, liebe Frau David, 1997 paßt mir gar nicht gut, können wir das nicht ein bißchen verschieben?'“

2.: „Daß sich spätestens nach den Love Parades Schwärme von Berufsjugendlichen aus Kunst- und Pressewelt ins ,Omen', oder ,E- Werk' oder ,WMF' zu schleppen müssen glaubten, auch wenn ihre akustischen Apparate dafür gar nicht mehr ausgelegt waren. Wieder zu Hause, saßen sie dann, bißchen harthörig, vor ihrem Laptop und dichteten der Jugend geradezu mutwillig ein kollektives Dissensvermögen und Befreiungspotential an, das dieser ja wohl so was von egal ist, daß sie einem schon fast wieder sympathisch sein könnte.“

Wiglaf Droste (Schriftsteller und Sänger)

1.: „Der stumpfe, aktionistische Drang, etwas zu verhindern, wovon man möglichst wenig (oder am besten: nichts) versteht, ist mir fremd. Dennoch: Die Welt wäre eine klügere gewesen ohne die Kriegshetze in der taz: Noch ekelhafter als der Krieg selbst sind Leute, die im Namen des Humanismus andere hineinzujagen versuchen.“

2.: „Schön wäre es gewesen, eine Jahresproduktion französischen Champagner (von de Souza & Fils) mit Freundinnen und Freunden (nicht FreundInnen) auszutrinken – und natürlich den deutschnational blökenden BoykotteurInnen (hier paßt's) nicht ein Schlückchen abzugeben.“

Alec Empire (Spaßguerillero? Chefideologe? Jedenfalls: Atari Teenage Riot)

1.: „Ich hätte gerne die allgemeine Stille und Stummheit verhindert, habe aber nur geschafft, sie zu stören. 1995 war der Beginn, kein Abschnitt.“

2.: „Ich hätte mir gewünscht, daß ich nicht als Randgruppe zu einer Generation gehöre, die sich immer weiter wie ein alter Hund zurück ins Körbchen treten läßt. ,To be exploited – and feel happy about it and die!' Brav – bravo!!!“

Renee Zucker (Schriftstellerin

1.: „Daß Konstantin Wecker gesungen hat.“

2.: „Daß der Reichstag länger verhüllt geblieben wäre – am liebsten für immer. Einfach, weil es so schön war.“

Christoph Schlingensief (Regisseur)

1.: „100 JAHRE KINO und den damit verbundenen Aberglauben politisch korrekter Jungkritiker, gute deutsche Filme beständen aus pädagogischen Kammerspielen, humanistischen Anliegen oder aus risikolosen TV-Produktionen mit ihrem sie alle verbindenen Analcharakter im hinterherhinkenden, sich seit den 60er Jahren nicht mehr verändernden deutschen Film. (Siehe Kinobeiträge in taz und DIE ZEIT.)“

2.: „Die Übernahme des neuen Deutschen Films durch das Internet und die Wiederkehr von Alfred Edel als interaktivem Vermittler!“

Christoph Tannert (Künstlerischer Leiter des Künstlerhauses Bethanien)

1.: „Die definitive Selbstmontage von Rolling-Stones-Gitarrist im dritten Glied, Ron Wood, mit einer Pseudo-Ausstellung dilettantischer Druckgrafik im neuen Tishman-Speyer-Building in der Berliner Friedrichstraße (seit Ende November). Daß die Stones mittlerweile alte Säcke sind, die sich nur noch ihre Nasen vergolden, wußten wir. Aber daß es Ron Wood am liebsten hat, wenn ihm sein Yuppie- Publikum am trockenen Pinsel schmatzt..., „Stop Breaking Down... Nur die Bolero tanzende Kati Witt ist noch peinlicher.“

2.: „Die Vollendung der Christoschen Verpackungsdelirien durch den Berliner Pyromanen Kain Karawahn. Feurio!“

Durs Grünbein (Dichter)

1.: „Der Freitod (Fenstersprung) des großen französischen Philosophen Gilles Deleuze... Ich weiß nicht, ob dieser Schlußakt in der biographischen Ordnung lag, fest steht, ich werde ihm nun nicht mehr begegnen können.“

2.: „Die Wiederkehr mindestens einer als ausgestorben geltenden Tierart, zum Beispiel: der Dronte.“

Funny van Dannen (Liedermacher, Schriftsteller, Maler)

1. „Im Prinzip alle Kriege dieser Welt. Aber das ist ja eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Eine Sache in meinem Alltag, die ich gerne verhindert hätte, ist, daß unser Auto – ein Audi 80 – gestorben ist. Den hatten wir schon so lange, und wir hatten uns einfach sehr an ihn gewöhnt. Auf der Fahrt zur Oma in Frankfurt am Main ist er dann nach nur 100 Kilometern in Wittenberg kaputtgegangen. Wir sind im Zug wieder nach Berlin gefahren – das war auch ganz schön, aber die Oma haben wir halt nicht mehr besucht.“

2.: „Ein Mädchen! Meine drei Kinder sind alle Jungen, und ein Mädchen wünsche ich mir schon sehr lange. Obwohl die Jungen natürlich auch klasse sind.“

Wolfgang Müller (Autor, Künstler, Vogelforscher und Islandfahrer

1.: „Den Tod von ,Midori', Japans letztem männlichem Schopfibis (crested ibis) in seinem Schutzgehege am 7. Mai. Midori hatte gerade Gras zum Nest gebracht, in welchem fünf Eier lagen. Auf diesen ruhten anschließend alle Hoffnungen auf einen Fortbestand der seltensten japanischen Vogelart. Midori war 21 Jahre alt, das entspricht 60 bis 80 menschlichen Jahren. Todesursache, vermuten die Biologen, war vermutlich Krankheit oder Altersschwäche. Seine Witwe, der Schopfibis ,Feng-Feng', war aus einem chinesischen Zoo zum Eierlegen geliehen worden.“

2.: „Daß die dritte und nach wie vor gültige Auflage des Falk-Plans Island/Reykjavik aus dem Verkehr gezogen wird, da zahlreiche Ortschaften, besonders in Feld O/5, verwechselt, vergessen, falsch geschrieben oder gar doppelt gedruckt worden sind. Auf meinen Hinweis diesbezüglich antwortete Falk: ,...freuen uns, wenn uns aufmerksame Kartenbenutzer auf Unkorrektheiten hinweisen. Wir werden Ihre Hinweise in der nächsten Auflage berücksichtigen.' Und macht weiter frech Werbung für den schlampigen Plan: ,Manche Pläne dienen eher dem Prestige als dem Geschäft.' Und Falk-Chef Lintzöft nimmt den Faden auf und setzt nach: ,Rejkjavik (sic!) macht uns beispielsweise nicht so große ökonomische Freude.'“

Thomas Brussig (Schriftsteller)

1.: „Den Film ,Schlafes Bruder'. Ich hatte viel Schlechtes darüber gehört, daß ich dachte, so schlimm könne es nun wirklich nicht sein, und ihn mir anguckte. Aber es war wirklich schlecht: viel zu dick aufgetragen, viel zu folkloremäßig, richtig peinlich.“

2.: „Daß ein Mittel gegen Aids gefunden worden wäre.“

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