: Ein ganzes Leben im Filz
„Väterchen Frost“ trägt Walenki, sie helfen auch gegen Hitze, doch die Herstellung der urrussischen Filzstiefel schreitet nur langsam voran ■ Aus Moskau Barbara Kerneck
Anders als unser Weihnachtsmann kommt das russische „Väterchen Frost“ erst zu Silvester. Und selbstverständlich trägt es an den Füßen Walenki – hohe Filzstiefel, die vor Frösten bis zu minus 55 Grad Schutz bieten. Der klassische Walenok – so heißt die Einzahl – wird in einem Stück aus Schafwolle gewalkt und hält ohne Naht und Nagel. Wie heutzutage in der russischen Politik lassen sich bei neuen Walenki keine Unterschiede zwischen Rechten und Linken ausmachen. Langfristig betrachtet, allerdings, verhält sich der Walenok äußerst demokratisch: Seine endgültige Form läßt er sich vom Fuße selbst diktieren.
In Hünengräbern fand man Exemplare dieses urrussischen Schuhwerks, die zwei- bis dreihundert Jahre vor unserer Zeitrechnung entstanden. Auf der Suche nach der Quelle heutigen Schuhwerks kommen wir zur „Moskauer Filzschuhfabrik“. Seit 1925 residiert sie nahe der Metrostation „Proletarskaja“ in einem gelbgeduckten Gebäude mit breiten Fensterbänken.
„Am besten gibt ihnen Tatjana Wassiljewna Auskunft, die steckt schon seit über dreißig Jahre im Filz“, erklärt uns die Pförtnerin. Tatjana Wassiljewna ist die Chefingenieurin des Unternehmens. Geschätzt haben wir die Walenki ob ihrer naturfarbenen, stumpfnasigen Schönheit zwar immer, aber diese Frau beweist uns, daß sie wir sie dennoch unterschätzten. Nicht nur, daß man mit Filzstiefeln drei Stunden lang unbeweglich im tiefsten Frost stehen kann, ohne sich Erfrierungen zu holen – sie helfen auch gegen Hitze.
In der turkmenischen Wüste, wo der Sand bis zu siebzig Grad heiß wird, erfreuen sich Walenki höchster Beliebtheit. Auch Hochofenarbeiter und Schmiede tragen sie gern. Wenn einmal ein Funke drauffällt, macht das fast nichts. Walenki brennen nicht, sie glimmen höchstens ein bißchen vor sich hin.
Im letzten Jahrhundert wurden Walenki unter Zusatz von Säuren gewalkt und gefärbt. Damit hat die Moskauer Fabrik 1989 Schluß gemacht und ein Verfahren zur säurefreien Walenkiherstellung patentiert. Bei der ganzen Produktion gibt es kein bißchen Abfall. Ob ihrer ökologischen Reinheit, versichert Tajana Wassiljewna, seien Walenki fast ein Allheilmittel: „Für Walenki werden keine Tiere getötet. Die freudige Aura des lebendigen Schafes teilt sich den TrägerInnen dieser Stiefel mit. In ihnen verschwinden Hühneraugen, Rheuma und Krampfadern. Im Bett anbehalten, vertreiben sie den Schnupfen, wie ein Saunabad. Dünne Walenki, sogenannte Filzstrümpfe, verhindern das Schwitzen in Gummistiefeln. Denn im Walenok herrscht ein eigenes Mikroklima.“
1941 richtete die Moskauer Fabrik ihre ganze Produktion auf Frontbedarf aus. Auch später lebte sie von Staatsaufträgen. „Erst vor zwei Jahren haben wir uns auf Produktion für EinzelbürgerInnen umgestellt“, berichtet die Chefingenieurin, will aber nicht verraten, wieviel sie heute produziert. Jetzt im Winter müssen es an die dreihundert Paar sein, die hier täglich unter Dampf aus brusthohen Rohlingen auf normale Schuhgrößen zusammengeschrumpft werden. Sie gehen zwar weg wie heiße Semmeln, aber die günstigen Preise locken vorwiegend ärmliche Kundschaft an. Ein Paar Walenki hält, wenn man es vor Matsch, Wasser und Streusalz bewahrt, bis zu fünf Jahren und kostet umgerechnet etwa fünfundzwanzig Mark.
Da die Walenki-TrägerInnen nicht zu den hortenden Bevölkerungsschichten gehören, stand die Fabrik in den letzten Sommern je zwei bis drei Monate still. Etwa fünfundzwanzig Saisonarbeiterinnen müssen dann gehen. Die fünfzig festen MitarbeiterInnen, vorwiegend Frauen, bekommen ihr Gehalt weitergezahlt. Seit der Privatisierung vor zwei Jahren bilden sie gemeinsam mit den Angestellten von drei weiteren Filzfabriken aus der Umgegend eine geschlossene AG namens „Horizont“.
Inzwischen versucht Tatjana Wassiljewna die Jugend zu erobern. Sie zeigt uns ihre Experimente: rosa und türkis melierte Datscha-Filzstiefelchen und leicht taillierte schwarze Exemplare mit Gummisohlen und Persianerbesatz.
Auch die naturweißen Exemplare läßt sie wiederaufleben. Früher zierten sie die russischen Adelsoffiziere, und einmal schenkte die „Moskauer Filzschuhfabrik“ ein solches Paar dem großen Steuermann Mao Tse- tung. Getragen wird das alles heute nur in Filmen und bei Modenschauen. Um auf eine derartige Produktion für die Massen umzurüsten, fehlt dem Unternehmen einfach das flüssige Kapital.
„Irgendwie schaffen wir es nicht, dem Filz das nötige Prestige zu verleihen“, bedauert die Chef- ingenieurin. Bekümmert erzählt sie, die Filzfakultät des Moskauer Textilinstituts, an der sie noch selbst studierte, sei seit 1975 praktisch geschlossen: „Ich finde nicht in den Schlaf, wenn ich daran denke, daß da eine Generation heranwächst, die von Filz keine Ahnung hat.“
Dennoch findet nirgendwo auf der Welt Filz eine so breite Anwendung wie in Rußland. Die noch etwa vierzig halbautomatisierten Fabriken in diesem Staat stellen unter anderem sogar Raumfahrt- und Musikfilz her, zur Isolierung bei extremen Temperaturen und Lautstärken. KünstlerInnen walken Gobelins aus Filz, ebenfalls nach einem einzigartigen und patentierten Verfahren.
Zum Schluß verschenkt die herzliche Chefingenieurin ein Fitzelchen Filzosophie: „Die Forschung hat uns viel über den Filz gelehrt, aber er birgt noch Geheimnisse. Haben Sie schon einmal bedacht, daß man Filz, im Gegensatz zu anderen Geweben, nicht aufdrisseln und neu verstricken kann? Warum? Im Filz finden Sie weder Anfang noch Ende, ebensowenig wie im Universum.“
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