Die Moral der Biedermänner

■ CompuServe will das Internet zensieren

Sie ist mal wieder aus den Fugen, die heile Welt des sauberen Bürgers – hier sind wirklich die Männer gemeint, die Biedermänner. Das weltweite Computernetz Internet hält ihnen den Spiegel vor: Sie sind ziemlich säuisch. Denn wer, bitte schön, liest die sogenannten Newsgroups, die schon im Titel verraten, worum es geht: „alt.sex.pedophilia“ oder „alt.sex.babies“? Biedermänner, die es nie zugeben würden. Wer ohne Schuld ist, der werfe den biblischen ersten Stein. Denn so christlich ist das Internet schon: Mit Modem und Computer sind wir in der Sünde alle gleich. Wir dürfen lesen und sehen, was wir wollen. Auch die Kunden des Datenhändlers CompuServe durften das, der Nummer zwei auf diesem ständig wachsenden Markt. Seit gestern dürfen sie es nicht mehr. CompuServe hat ihnen den Zugang zu den Sexgruppen gesperrt. Keinem einzigen Opfer sexueller Gewalt oder Ausbeutung ist damit geholfen. Die Realität läßt sich nicht verbieten, nur verbessern, und viele hoffen immer noch, die völlige Informations- und Meinungsfreiheit in den Computernetzen könnte ein Beitrag dazu sein.

Doch daran scheint die Firma CompuServe kein Interesse zu haben. Sie will nur das Geld ihrer Kunden, ihre Freiheit will sie nicht. Und schon gar nicht will sie sich ihre Geschäfte stören lassen von den öffentlichen Diskussionen, die jetzt geführt werden müssen. Dafür und nur dafür trägt eine Firma Verantwortung, die den Zugang zum freien Datenverkehr des Internet öffnet. Daran besteht ein öffentliches Interesse. Sie darf ihn nicht absichtlich verfälschen und behindern, im Namen eben jener Moral nicht, die jetzt beschworen wird, um eine Zensur zu rechtfertigen.

Tatsächlich stellt die neue Freiheit der Information neue moralische Fragen, nicht nur, was die Pornographie betrifft. Nicht alles kann in den Computernetzen gleichermaßen legitim und erlaubt sein. Doch eine Entscheidung darüber kann nur von Leuten getroffen werden, die wissen, wovon sie reden. Wer vorab auswählt, was ihnen zumutbar ist, verhindert gerade, daß wir moralischen Argumenten folgen. Wie jede Zensur ist auch diese mit Heuchelei verbunden. Seinen zahlenden Kunden gegenüber bedauert CompuServe seinen Schritt und behauptet, von der deutschen Staatsanwaltschaft dazu gezwungen worden zu sein. So erzeugt eine Lüge die nächste. Von Zwang kann keine Rede sein. Nur in Diktaturen richten die Ankläger die Angeklagten – eben deswegen brauchen Diktaturen Zensoren. Niklaus Hablützel