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Nachdenken über ein Berliner VW-Modell

■ SPD und Gewerkschaften verhandeln über neue Arbeitszeitmodelle für 174.000 Beschäftigte. Um Entlassungen zu vermeiden, sollen etwa Lehrer weniger arbeiten. Koalitionsverhandlungen gehen weiter

Berlins Arbeit soll gerechter verteilt werden. Statt Tausende von Stellen im öffentlichen Dienst zu streichen und dafür sogar Angestellte etwa in Rathäusern, Schulen sowie Polizeirevieren zu kündigen, zielen SPD und Gewerkschaften auf eine Verkürzung der Arbeitszeit für einen Großteil der 174.000 Beschäftigten des Landes Berlin. SPD-Fraktionschef Klaus Böger trifft sich deshalb heute in dieser Reihenfolge mit den Spitzen von ÖTV, DAG und GEW.

Nach Berechnung des abgewählten Kreuzberger Bürgermeisters Peter Strieder müßte bis Ende 1999 mit insgesamt 41.000 Stellen jede vierte Stelle im öffentlichen Dienst gestrichen werden. Andernfalls würde das Land in dieser Zeit ein noch größeres Defizit erwirtschaften, als es mit 20 Milliarden Mark bereits eingeplant hat. Strieder ist gegen den Massenabbau von Stellen und plädiert dafür, die im Wolfsburger VW-Werk erstmals in größerem Stil eingeführte Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich auf die Berliner Verwaltung zu übertragen.

Im Schnitt würden Beamte und Angestellte ein Zehntel weniger arbeiten und ein Zehntel weniger verdienen. Der Osttarif soll auf 90 Prozent des Westtarifs eingefroren und die Arbeitszeit ebenfalls entsprechend reduziert werden. Mitarbeiter mit niedrigen Gehältern sollten auf Wunsch von diesen Regelungen ausgenommen werden.

Ein entsprechendes Papier von Strieder, der in einer Arbeitsgruppe die SPD-Kommission bei den Koalitionsverhandlungen mit der CDU berät, sorgte für Wirbel. Der stellvertretende Partei- und Fraktionsvorsitzende Hermann Borghorst bezeichnete Strieders Vorschlag als „abenteuerlich“: „Die SPD braucht keine profilneurotischen Kandidaten.“ SPD- Fraktionschef Böger kritisierte, daß Strieder sein Papier veröffentlichte, noch bevor die Gespräche mit den Gewerkschaften begonnen haben. Der Ärger in der SPD- Spitze ist offenbar deshalb so groß, weil Strieders Thesenpapier womöglich größere Bedeutung zukommt, als es manche Sozialdemokraten haben möchten.

Die Koalitionverhandlungen werden seit gestern in sechs Arbeitsgruppen von CDU und SPD fortgeführt. Unter anderem geht es um die Frage, ob die Reduzierung der fünfzehn Senatsverwaltungen auf zehn reicht. Böger hält neben dem Regierenden Bürgermeister bereits sieben SenatorInnen für ausreichend. Jeweils einer wäre zuständig für Inneres, für Justiz, für Finanzen, für Arbeit und Sozialordnung (inklusive Gesundheit, Jugend, Familie), für Kultur, Schule, Wissenschaft und Forschung, für Stadtentwicklung (mit Bau, Verkehr und Umwelt) sowie für Wirtschaft und Technologie.

Bürgermeisterin Christine Bergmann (SPD) betonte, daß den Koalitionsverhandlungen noch der nötige Erfolg fehle. Beim jetzigen Stand der Verhandlungen schließe sie Neuwahlen nicht aus. Mittwoch in vierzehn Tagen sollen die Parteitage von CDU wie SPD über die Fortsetzung der Koalition entscheiden. Dirk Wildt

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