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Diepgens Spendenaufruf 1996: Brot für die Welt

■ In der Silvesternacht wurde geböllert wie noch nie: Feuerwehr im Großeinsatz

Der Tag danach: zerfetzte Hände, ausgebrannte Wohnungen, halbtaube Alte, Berge von Raketen- und Böllermüll auf den Straßen.

Bei der Silvesterknallerei 1995/96 haben die Hauptstädter wieder einmal die pyromanische Sau rausgelassen. „Niemals zuvor“, sagte gestern Landesbranddirektor Albrecht Broemme auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen, „mußten wir so viele Einsätze wie in dieser Silvesternacht fahren.“ Es seien mehr als in anderen Städten pro Jahr gewesen: „Wir waren an der Belastungsgrenze.“ Die Bilanz des unsachgemäßen Umgangs mit Feuerwerkskörpern sei „ziemlich erschreckend“, so Broemme.

Nach Angabe des Feuerwehrhauptmanns mußten die 117 Löschzüge sowie 116 Rettungswagen zwischen Silvesterabend und Neujahrsmorgen zu insgesamt 2.058 Einsätzen ausrücken. Das seien 229 mehr als 1994/95 gewesen. 612 Brände seien gelöscht worden, 1.003 verletzten Personen in Wohnungen und auf der Straße sei geholfen worden, so Wolfgang Mönch, Chef der Feuerwache Mitte. „Um 1.15 Uhr war die höchste Belastung mit 242 laufenden Einsätzen“ der 1.549 Feuerwehrmänner- und frauen zu verzeichen. 1994 hatten die Spritzer noch rund 100 Einsätze weniger zu fahren.

Bei den über 30.000 Silvesterschunklern vor dem Brandenburger Tor kam es entgegen den Erwartungen zu keinen Feuerwerksunfällen. Zu kalt für Straßenschlachten mit Chinaböllern war es auch in Kreuzberg und Prenzlauer Berg. Die meisten Einsätze fuhr die Feuerwehr in den peripheren Bezirken. In Neukölln sei eine Wohnung ausgebrannt, berichtete Broemme. Zwei Erwachsene und ein Kind seien mit Rauchvergiftungen in ein Krankenhaus transportiert worden. In Lankwitz habe das Dach eines Einfamilienhauses Feuer gefangen.

Der schwerste Brand ereignete sich in der Matternstraße im Bezirk Friedrichshain. Die Feuerwehr mußte fünf Personen aus einem brennenden Hinterhaus retten und alle Bewohner evakuieren. Todesfälle seien bisher nicht zu beklagen, so Broemme. Aus Sicht der Polizei verlief die Nacht dagegen „relativ ruhig“. Zwar wurden 249 Schlägereien gemeldet, und 36 Personen wurde beim Abbrennen von Feuerwerkskörpern die Hand versengt. Die Polizei mußte aber fast achtzigmal weniger eingreifen als in der Nacht auf 1995.

Sichtlich unausgeschlafen reagierte Eberhard Diepgen auf die Folgen der Silvesterballerei. Statt den Berlinern endlich mal die Fete zu gönnen, „sollte das Geld sinnvoller ausgegeben werden, etwa als Spende für Brot für die Welt“, sagte er. Dem Feuerwehrhauptmann versicherte Diepgen, daß die geplante Hauptleitstelle in Siemensstadt eine wichtige Neubaumaßnahme bleibe, die 1999 für 85 Millionen Mark fertiggestellt sein sollte. Zusagen wollte Diepgen aufgrund der Haushaltsmisere und der laufenden Koalitionsverhandlungen aber nicht machen. Rolf Lautenschläger

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