Vivisektion der französischen Linken

Universalismus und Patriotismus: Die Intellektuellen der Grande Nation  ■ Von Susann Heenen-Wolff

„Nicht einmal im Mai 1968 haben wir von einer Situation wie heute geträumt, wo die Intellektuellen sich an der Seite der Arbeiter wiederfinden.“ Es war der Anthropologe Emmanuel Terray, der im Dezember auf einer Veranstaltung des Appel des Intellectuelles au soutien des grévistes in Paris so begeistert über den Streik in Frankreich sprach.

Und Pierre Bourdieu, Autor von La Misère du Monde bescheinigte den Streikenden gar, gegen die „Zerstörung der Zivilisation, die mit dem öffentlichen Dienst einhergeht“, zu kämpfen. Bourdieu forderte deshalb die Intellektuellen im Land auf, ihren Platz neben den Streikenden, den Gewerkschaften und den Verbänden einzunehmen und inventive Lösungen zu suchen. Konkreter wurde er allerdings nicht. Aber die Frage ist uralt.

Die Frage nach dem Platz des Intellekteuellen in der konkreten politischen Auseinandersetzung, in Revolte und Revolution hat die französische Linke seit 1789 beschäftigt, wenn auch der Begriff erst später, während der Affäre Dreyfuss, geprägt wurde.

Den französischen Intellektuellen war die Erfahrung der Revolution von 1789 stets Ausgangspunkt all ihrer politischen Hoffnungen. Es war also ein Bezug auf ein Mega-Ereignis der nationalen Geschichte, das gleichzeitig aber unmittelbar mit universalistischen, transnationalen Werten, so wie sie damals erstmalig formuliert wurden, verbunden war.

Universalismus und Patriotismus in französischer Geschichtsdeutung schließen sich also nicht gegenseitig aus, vielmehr scheinen sie geradezu natürlich aufeinander bezogen. Deshalb macht auch die französische Vorstellung der „Grande Nation“, über die hierzulande so gern geschmunzelt wird, selbst einem Linksaußen kein Unbehagen.

Der britische Historiker Sunil Khilnani hat in einer umfangreichen, mitunter etwas fleißig geratenen Untersuchung diese Spezifika und die daraus folgende Stellung des Intellektuellen in der französischen Gesellschaft nachgezeichnet.

Anders als in Deutschland war die Begriffsbestimmung der Nation eng mit dem revolutionären Umsturz des Absolutismus verbunden. Dies verstärkte sich noch durch die Tatsache, daß die Rechte das republikanische Bild der politischen Gemeinschaft bekämpfte: Die Identifikation mit der Republik war so bereits als solche antireaktionär. Frankreich war schließlich das Vaterland der universalistischen Projekte der Revolution und das Geburtsland der modernen Demokratie und der Menschenrechte. Auf diese beiden Aspekte der französischen Geschichte kann die Linke auch heute stolz zurückgreifen, zumal die modernen politischen Vertreter dieser beiden Hauptakzente – die KPF und der Gaullismus – sich im Zweiten Weltkrieg durch ihren Widerstand gegen den Nationalsozialismus ausgezeichnet hatten.

Das „wahre“ Frankreich, so empfand man nach dem Zweiten Weltkrieg, war das dem Widerstand verpflichtete, und die Verurteilung des Vichy-Regimes konnte einhergehen mit einer Rückbesinnung auf die großen Traditionen der französischen Geschichte. Die Kollaborateure hatten aus der Sicht von Nachkriegsfrankreich das Land verraten und wurden aus der Gemeinschaft ausgestoßen beziehungsweise mit Publikationsverbot belegt. Nationale Identität und die politische Gemeinschaft nach Vichy konnte also über die patriotische Erinnerung an die unversalistischen Werte der französischen Republik hergestellt werden.

Nun wird schon seit Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre teils hämisch, teils bedauernd ein „Niedergang der französischen Linken“ festgestellt. Und für Khilnani ist dieser denn auch Anlaß und Ausgangspunkt seiner Untersuchung. Nach theoretischen und praktisch-politischen Blütezeiten nach dem Jahr 1968 ist diese Feststellung sicherlich zutreffend, aber – nicht nur für Frankreich. Vielmehr leidet die Linke ja überall in der Welt an dem politischen Vakuum, das das Scheitern von realem Sozialismus in Ost und Süd und West hinterlassen hat.

Khilnanis Studie hat zweifellos den Verdienst, die spezifische französische Vorgeschichte der Stellung des Intellektuellen in dieser Krisenzeit nachzuzeichnen. Allerdings wird man bei der Lektüre dieses manchmal ein wenig zu gewollt brillant geschriebenem Buch das Gefühl nicht los, das letztlich neben bewundernswerter britisch- akademischer Studiertheit (hundert Seiten Anmerkungen!) dem Autor der Sinn für romanischen Spaß am Sich-in-Szene-Setzen und verbal-radikalem Agieren abgeht; so manche schillernde Blüte des französischen „Diskurses“ geht aber genau darauf zurück. Jedenfalls darf man sich fragen, ob zum Beispiel die „Neuen Philosophen“ in Paris so ernstgenommen wurden oder werden, wie Khilnani es darstellt. Oder wenn zum Beispiel ein Fakultätsmitglied im Jahre 1972 die wachsende finanzielle Regierungsunterstützung für die Abteilung Psychoanalyse an der Universtität Vincennes kommentiert, die Regierung bezahle dafür, „daß wir die marxistischen Unruhestifter mit ihrem Unbewußten in Atem halten“, dann sollte das nicht für bare Münze genommen werden, sondern allenfalls als Indiz von Selbstironie, und schon gar nicht als Erklärung dafür, daß es in Frankreich, anders als in Deutschland und Italien, nicht zu terroristischer Politik gekommen ist.

Khilnani zitiert, rapportiert, berichtet und ordnet sein umfangreiches Material – der politische Werdegang Sartres, der theoretische Weg Althussers werden nachgezeichnet –, aber seine These bleibt recht verschwommen, so daß man sich nach beendeter Lektüre fragt, warum für letztlich so wenig Aussage so viele Seiten vollgeschrieben werden mußten. Denn das doch wohl interessanteste „französische“ Phänomen erklärt Khilnanis Studie nicht: Wie kommt es, daß dort Intellektuelle aus den zugegebenermaßen „verschwommenen“ Begriffen „Antitotailitarismus“, „Republik“ und „Menschenrechte“ nicht nur politische Identität beziehen, sondern auch ganz konkret die theoretischen Grundlagen für ihr aktuelles politisches Handeln ableiten. Die leidenschaftliche Diskussion um die integrative Funktion der laizistischen Schule, die Frage nach der Begründung humanitärer Hilfe in Krisengebieten und deren Realisierung und – nicht zuletzt – die Einmischung der Intellektuellen in die sozialen Konflikte im vergangenen Dezember zeigt, daß die französische Linke so tot oder so lächerlich nicht ist, wie manche glauben machen möchten.

Sunil Khilnani: Revolutionsdonner. Die französische Linke nach 1945. A. d. Englischen v. Martin Suhr. Rotbuch Verlag, Hamburg 1995, 376 S., 58 DM