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„Sein Vergnügen war die Logik des anderen“

■ Der Schriftsteller Durs Grünbein kannte Heiner Müller als einen boshaften Humoristen

„Für mich war er der erste Autor, bei dem ich Dichtung als intellektuelles Abenteuer sah. Mit ihm geht etwas sehr Seltenes verloren, eine sehr seltene Ressource: intellektuelles Gewissen. Heiner war ein freundlicher Stoiker. Sein Zynismus war Güte, die reine Menschenfreundlichkeit, weil er Konflikte zu Ende dachte, die andere – weit grausamer – mit Illusionen verschleierten.

So ist sein Werk eine Auseinandersetzung mit allen großen Gedankengebäuden, Ideologemen und Diskursen, die aus diesem Jahrhundert hervorgegangen sind. Und es hat dabei eben dessen spezifische Färbung angenommen: die Kälte, den Amoralismus, was er die Schrecken der Verwandlung nannte.

In zweierlei Hinsicht blieb er eine singuläre Erscheinung: Heiner Müller hat sich bis zuletzt an der Konstruktion der Tragödie versucht, zeitgenössische und antike Geschichte verschränkt. Daß die Tragödie den Geist aufgeben könnte, wie Hegel dachte, hat ihn zeitlebens beschäftigt. Bürgerliches Theater war für ihn weitgehend Gemurmel.

Er hat einmal gesagt, sein Platz sei die leere Stelle, die die kommunistische Utopie hinterlassen hat – für Künstler sicher ein unangenehmer Ort, aber exakt dort hatte er (verlorenen) Posten bezogen. Das Kriegerische seiner Metaphorik rührt daher. Ich sehe nicht, wer ihm in dieser Generation an die Seite gestellt werden könnte.

Das Erstaunliche an unserer ersten Begegnung war die Aufmerksamkeit (ein Interesse jenseits aller Routine), die er dem 33 Jahre Jüngeren entgegenbrachte. Sein Appetit auf Kommendes war unermeßlich, seine Offenheit gegenüber Jüngeren. Sein Vergnügen war die Logik des anderen, der ihm gegenübersaß. In seiner Wahrnehmung gab es die Hierarchien von Generation, Status und Herkunft nicht.

Er war der erste lebende Schriftsteller, dem ich begegnet bin, der mich in andere Zeitzusammenhänge versetzte. Gespräche mit ihm konnten ein Vorrat für Wochen sein. Dem einsamen Prosaschreiben zog er, in einem ganz ursprünglichen Sinne, das Geschichtenerzählen vor. In diesem Sinne hat er sich wohl als Dramenfigur begriffen. Seine Interviews waren Auftritte neben den Stücken, seine Autobiographie war ein gesprochenes Erzählwerk. Von jetzt an wird sein Verlust mit jedem Tag größer. Dieser unerschöpfliche Anekdotenerzähler und boshafte Humorist wird mir fehlen.

Meine früheste Erinnerung ist eine durchgemachte Nacht in seinem Plattenbau in Friedrichshain 1986. Als wir morgens um sechs auf dem Balkon standen, mit Blick hinüber zum Tierpark und auf die anderen Plattenbauten gegenüber, sagte er: In achtzig Jahren wird das alles hier Schutt sein. Er hat nie an die Haltbarkeit von Systemen und Religionen geglaubt, vielleicht weil er wußte, daß der Körper als erstes aufgibt.“ Aufgezeichnet von Harald Fricke

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