: Liebesgeschichten mit Gangsterstück
■ Im Berliner Ensemble begann gestern die Marathonlesung für Heiner Müller. Hochhuth betreibt derweil Leichenfledderei und will Müllers BE-Anteile erwerben
Das Berliner Ensemble (BE) trauert nicht um Heiner Müller. Es ehrt ihn. Draußen, über dem Eingang des Theaters, schwebt zwar ein schwarzer Trauerflor mit der Aufschrift „Heiner Müller 1929 bis 1995“. Drinnen aber, wo gestern im Foyer mit der achttägigen Marathonlesung aus den Werken Müllers begonnen wurde, ist der Intendant und große Dramatiker noch wie gegenwärtig. Müller-Autobiographien, Müller-Erzählungen, Müller-Schwänke, Müller-Biß und Müller-Gedichte werden sachlich, lakonisch und bizarr von Schaupielern vom kleinen Podium herunter rezitiert. „Andere stellen sich an einen Sarg, wir ehren ihn durch seine Texte. So sind wir ihm verbunden, und er ist es uns hier“, sagt Carmen-Maja Antoni. Antoni, Schauspielerin aus der alten Ostbesetzung des BE, las die 1984 entstandene „Bildbeschreibung“, in der Müller eine Landschaft im Jenseits erdichtete. Sie habe sich den Text „ausgeguckt“, weil sie und der Autor damit einmal gearbeitet hatten. „So bin ich ihm an nächsten.“ Vor Antoni hatten bereits der Akteur Hans Fleischmann und die Schauspielerin Christine Gloger ihre Stücke mit belegter Stimme gelesen, die der Autor Holger Teschke für den ersten Lesetag mit 24 Texten ausgewählt hatte.
Die Stimmung im Ensemble, erzählt Karin Graf, Pressechefin des Theaters, sei nach dem Tod Müllers „unten“ gewesen. Schauspieler hätten „geweint“ und sich gegenseitig getröstet. Doch als am vergangenen Sonntag der Vorschlag kam, bis zum 9. Janunar – dem Geburtstag Heiner Müllers – eine Vortragsreihe zu organisieren, erschien das für viele wie eine Befreiung. „Zustimmung war sofort da“, der Schock sei positiv gewendet worden.
„Die Worte lösen die Spannung“, kommentiert ein Zuhörer die Atmosphäre im oberen Foyer, das – mal mehr, mal weniger – mit gut zwei Dutzend Menschen gefüllt ist. Er sitzt wie andere bei Kaffee, Schnaps und Zigaretten und lauscht den kurzen Texten. Und als die Mimin Nadja Engel aus „Wolokolamsker Chaussee“ vorliest, sich kurz verhaspelt oder bei der Stelle „Was passiert, wenn ein Schreibtisch einen Schreibtisch fickt?“ den Mund verzieht, huscht ein Grinsen über die Gesichter der Zuhörerschaft im Raum. Natürlich herrscht Aufregung im Haus. Wie geht es weiter? In der Kellerkantine „Casino“ platzt ein Bierglas, als sich zwei Bühnenarbeiter über die Zukunft des Theaters streiten. Auch der technische Verwaltungschef, bis zum Fall der Mauer BE-Trompeter mit „Auslandserfahrung“, kriegt „leichtes Magenknurren“, denkt er an die Nachfolge des BE- Leiters. „Müller hat den Intendanten nicht rausgehängt, und nur so einen brauchen wir wieder.“
Im kleinem Intendantenzimmer, in dem bereits Brecht und Helene Weigel residierten, hocken derweil die Regisseure und Co-Direktoren Peter Palitzsch und Fritz Marquard sowie BE-Geschäftsführer Peter Sauerbaum mit Kultursenator Roloff-Momin zusammen. Dort ist die Stimmung ebenfalls unten, scheint doch das BE von Leichenfledderern bedroht. Wie Karin Graf bestätigt, habe der Schriftsteller Rolf Hochhuth die Gesellschafter angerufen und sich um die BE-Anteile Müllers bemüht. Hochhuth ist seit langem, gegen den Widerstand des Ensembles, an der Übernahme des früheren Brecht-Theaters interessiert.
Während Roloff-Momin beschwichtigt und „nichts gegen den Willen“ des Theaters unternehmen will, gehen bei Graf und Sauerbaum die Emotionen hoch. Niemand möchte mit Hochhuth etwas zu tun haben, erklärt Graf. Dessen Ansinnen kurz nach dem Tod Müllers sei „indiskutabel“, empört sich Sauerbaum. Eine Übernahme der Müller-Anteile sei nicht möglich, da dieser Erben habe. Derweil wird auf der Bühne eine Liebesgeschichte erzählt. Rolf Lautenschläger
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