: „Bis heute verkörpert der Kaiser die Spitze der sozialen Hierarchie“
■ Der Philosoph Shuichi Kato über das Ende des Gottkaisers
Ich selbst betrachtete den Kaiser nie als Gott. Als er sich am 1. Januar 1946 endlich als normaler Mensch bezeichnete, war das für mich eine Selbstverständlichkeit.
Natürlich tat er das nur unter dem Druck der amerikanischen Besatzungsmacht, die dabei aus meiner Sicht völlig verständlich handelte. Das ganze System des japanischen Militärfaschismus war darauf aufgebaut, daß der Kaiser Gott war. Es hätte mich also nicht erstaunt, wenn die Amerikaner das Kaiserhaus damals ganz abgeschafft hätten. Sie handelten im Grunde mild.
Gleichzeitig erstaunte mich die Reaktion der japanischen Öffentlichkeit: Das japanische Volk akzeptierte die Erklärung des Kaisers ganz ruhig, ohne Komplexe und psychologische Schwierigkeiten. Nur sechs Monate vorher waren alle Aussagen in der Öffentlichkeit um die Göttlichkeit des Kaisers gekreist, und schon von meiner Kindheit an war in Schule und offizieller Erziehung ununterbrochen vom Gottkaiser die Rede gewesen. Ich hätte also Widerstand oder zumindest eine gewisse Malaise erwartet. Aber nichts davon trat ein. Die Leute benahmen sich, als wäre der Kaiser nie Gott gewesen.
Wo aber war dann der kurz zuvor allgegenwärtige Fanatismus geblieben? In Deutschland erregte Hitler auch nach dem Krieg noch Haß oder Sentimentalität. In Japan aber evaporierte der Kaiserfanatismus über Nacht. Die Antwort mußte also in Kultur und Mentalität der Japaner begründet liegen.
Meine Theorie lautet, daß es Unterschiede zwischen schwachen und starken Glaubensformen gibt. Der japanische Kaiserglaube war insofern ein schwacher Glaube, als er sich der sozialen Praxis unterordnete. Als es dann nicht mehr praktisch war, an den Kaiser zu glauben, störten sich die Japaner nicht mehr an ihm. Ein starker Glaube wie der christliche hingegen kennt absolute Prinzipien, die über jeder Situation stehen. Das ist den Japanern fremd. Wahrscheinlich ist es ein Grundmerkmal der japanischen Mentalität, daß man gegenüber allen moralischen und ideologischen Werten immer nur situationsbedingt Stellung bezieht.
Den Gottkaiser gab es nur in der imperialen Ära
Insofern stellt sich die Frage nach dem Gottkaiser heute nicht mehr. In Japan war der Kaiser immer nur einer unter tausend Göttern. Den absoluten Gottkaiser gab es nur im Meiji-Staat von 1868 bis 1945. Davor führte der Kaiser ein Schattendasein, und nach dem Krieg schloß man wieder an diese tausendjährige Tradition an. Die Idee war nun, ein menschliches Kaiserhaus zu schaffen. Es sollte populär sein, doch gleichzeitig sollte der Kaiser die Distanz zum Volk nicht verlieren.
Teilweise ging das Konzept auf. Ihm entgegen lief einerseits die Entwicklung der Medien, die das Geschehen am Kaiserhof – allerdings nur rund um die Frauen – trivialisieren, und die Entstehung rechtsextremer Bewegungen, die bis heute Kritik am Kaiser oft sogar mit Terrorismus beantworten.
Im Herzen mag der jetzige Kaiser Akihito sogar ein Liberaler sein. Doch als Person ist der Kaiser nicht wichtig. Es bleibt eine Frage des Systems, und hier verkörpert der Kaiser bis heute die Spitze der sozialen Hierarchie. Alles Prestige der Individuen ist dadurch definiert, wie nahe sie dem Kaiser stehen. Deshalb sieht ihn der Premierminister vielleicht zehnmal, der Minister fünfmal und der Firmenpräsident einmal im Jahr. Doch weit über 90 Prozent des Volkes begegnen ihm nie.
Vor diesem Hintergrund war die Aufgabe der Göttlichkeit ungeheuer wichtig. Damals brach eine vertikale Gesellschaftsstruktur zusammen, die sich in ihrer Absolutheit nicht wiederaufrichten läßt. Shuichi Kato
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