Fast schon körperliche Erfahrungen

■ Tod, Zufall, Groteske, Fremdheit: In Jim Jarmuschs Schwarzweiß-Western Dead Man wandelt sich Johnny Depp zur Musik Neil Youngs vom Buchhalter zum Outlaw und Natur-Mystiker

„Alles fließt“ ist ein Satz, der nach diesem Film einen neuen Bedeutungsumfang bekommen könnte. Das, was bisher bei langsam vorbeigleitenden Kamerafahrten (travelling shots) nur für kurze Momente galt, ist bei Dead Man nun Stilprinzip. Nur widerwillig hält der Wim-Wenders-Kameramann Robby Müller seine rauschenden Fahrten an, hält verwirrt inne, um dann wieder in den Fluß, aufs Pferd oder in die Eisenbahn zu steigen.

Nicht von ungefähr beginnt die Irrfahrt des Buchhalters William Blake (Johnny Depp) auch in einem Zugabteil. Er ist auf der Reise nach Machine, an die Grenze der Zivilisation im äußersten Westen Amerikas. Dort will der gelernte Buchhalter von der Ostküste eine Stelle in den Metallwerken von John Dickinson (Robert Mitchum) antreten. Doch die Zugfahrt dauerte, wie damals üblich, über einen Monat und die Stelle ist längst besetzt – als der schüchterne Jüngling vorgelassen wird, blickt er in einen Gewehrlauf.

Blake stapft durch die matschigen Gassen des Frontier-Weilers, sieht mit von der langen Reise fiebrigen Augen pissende Pferde, Nutten beim Blow Job und schmierige Gesichter am Straßenrand. Und wie er so etwas ziellos durch die Straßen streunt, ahnt jeder, der schon einmal in der Ferne war: Blake ist entgrenzt, fremd und verloren. Ein fast schon toter Mann. Irgendwie gerät er in eine Schießerei, flieht vor den Häschern des Fabrikbesitzers und wird von dem Indianer Nobody für einen Wiedergänger des englischen Dichters William Blake gehalten, der nun mit Kugeln statt mit Worten zurückgekehrt ist.

Man sieht schon: dem Held geraten die Zügel aus der Hand, er wird getrieben. Und so knüpft Jim Jarmusch im sechsten Film an ein Motiv seines Erstlings an. Auch in Permanent Vacation ließ sich der Held treiben. Die Straßen von New York sind den Pfaden des wilden Westens gewichen, doch Zufälle statt selbstbestimmte Entscheidungen tragen in beiden Fällen die Geschichte fort.

Klar gibt es, wie immer bei Jarmusch, fragwürdige Punkte. In Dead Man ist es die Wiederkehr des Dichterfürsten als Revolverhelden. Daß dabei für Jarmusch die Schriften des englischen Mystikers William Blake klingen, „als wären sie der Seele eines Indianers entsprungen“, ist doch reichlich gegen den Strich gebürstet. Vor allem aber ist Dead Man von einem penetranten Natur-Mystizismus geleitet, der von niemand besser als von Neil Young untermalt werden könnte, der mit nur wenigen Gitarrenriffen dunkle Naturstimmungen anklingen läßt. Ständig bleibt so aber die Natur aufgeladen mit unverständlichen Zeichen.

Doch wenn man loslassen kann, wird man mit Dead Man in einen Fluß der Bilder gleiten, ohne sich zu bewegen. Toter Mann im Kino eben. Und am Ende fühlt man sich dann einmal durchgespült und fremd in einer bunten Welt. Ein Film, der fast schon eine körperliche Erfahrung auslöst.

Volker Marquardt Abaton, Neues Broadway, Zeise