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: Moskau–Berlin

Man müßte unbedingt mal was übers Finanzamt machen, wie die Profijournalisten zu sagen pflegen. Unlängst verlangte das gerade mit der Tiergartener Behörde zwangszusammengelegte Finanzamt Mitte die Adresse meiner Brieffreundin in Sibirien, Jannah aus Irkutsk, nebst einer Übersetzung ihrer Briefe, die ich ihr u.a. mit 100 Dollar beantwortete und deswegen von der Steuer abzusetzen beabsichtigte. In ihrem letzten Brief schrieb sie: Sie habe ihr „Sexbusiness“ an den Nagel gehängt, ihren kaputten Opel verkauft und wäre dann mit ihrer Freundin an den Baikalsee in die Sommerferien gefahren. Als sie wieder zurückkam – blank – hätte die Oma, mit der sie zusammen wohnt, ihr meinen Brief nebst dem Geld übergeben, was ihr gut in den Kram gepaßt hat. Trotzdem solle ich aber in Zukunft kein Geld mehr schicken. Dafür aber noch einmal den letzten Brief, denn den habe sie ein paar Tage später zusammen mit einem Wörterbuch in ihren Rucksack gepackt und mitgenommen, als sie mit ihrer Freundin am Wochenende mit dem Zug an einen See gefahren sei. Dazu muß man wissen: 1. Im Baikalsee kann man, weil er zu tief und deswegen zu kalt ist, auch im Sommer nicht baden. 2. Weil es auch Irkutsker ohne Landhaus im Sommer ins Grüne zieht, fährt die Eisenbahn einfach am Wochenende mehrere Züge vor die Stadt, nahe an irgendwelche Seen und stellt sie dort ab. Die Fahrgäste können die Abteile als Datsche benutzen. Dort am See nun, so Jannah, hätten zwei Männer ihren Rucksack geklaut – mitsamt Brief und Wörterbuch. Während die beiden Mädchen schwammen. Bis dahin hatte sie gerade mal die ersten Zeilen übersetzt gehabt, deswegen müsse ich ihr nun noch einmal schreiben.

Soweit ihr letzter Brief. Die Sache ging aber noch weiter: Kaum hatte ihn mir die freundliche taz- Osteuropa-Redakteurin rohübersetzt, verlor ich den Brief aus meinem Jackett – und fand ihn nicht wieder. Damit hatten wir es mit zwei verschwundenen Briefen zu tun. Das Finanzamt begnügte sich dann zwar mit der deutschen Zusammenfassung eines alten Briefes von Jannah – und erachtete diesen „Deal“ als steuerabzugsfähig, aber desungeachtet sollte ich zum einen dennoch eine geradezu irre Steuerschuldsumme begleichen, und zum anderen war ich mir über die weitere „Bearbeitung“ des Briefwechsels nicht im Klaren: Eigentlich brauchte sie das „Honorar“ doch jetzt dringender als früher – mit regelmäßigem „Intergirl“- Einkommen.

Dann erfuhr ich auch noch, daß der alte Zausel-Direktor des „Mauer-Museums“ Hildebrandt jüngst eine junge Ukrainerin geheiratet hatte und daß der alte Rechts-Historiker Zitelmann neuerdings in der Hilton-Disco „Chip“ verkehre, wo viele Russinnen tanzen gehen: Eine hätte er jetzt sogar geehelicht. Ferner, daß die im russischen „Sex-Kino“ Potsdamer Straße nackttanzende Moskauerin mit blonder Perücke, Tanja, ein regelrechter Renner unter den bärtigen Schöneberger Linksintellektuellen geworden sei, während die beiden naturblonden St. Petersburgerinnen im „Sex-Kino“ Berliner Allee in Weißensee von der ostdeutschen Intelligenz so gut wie gar nicht angenommen würden.

Wenn also dieser neuerliche Vorstoß der vereinigten West- Truppen in die Weite des russischen Raumes voll im Trend lag, war es dann nicht hohe Zeit, entschieden gegenzusteuern? Und wenn ja, wie ließe sich das brieflich bewerkstelligen? Eine Bekannte schleppte mich ins Arsenal, in den Film „Das Zigarettenmädchen von Mosselprom“ – ein Film aus der NÖP-Zeit, der Neuen Ökonomischen Politik Mitte der zwanziger Jahre, wo es wieder Neureiche, Schieber, Dollars und Marktwirtschaft gab: „Also alles schon mal dagewesen.“ Ein wunderbarer Film, aber – wenig hilfreich! Helmut Höge

wird fortgesetzt