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Gechichte aus geringsten Spuren

■ Heute abend liest W.G. Sebald aus „Die Ringe des Saturn“

Schon der erste Satz. Man muß ihn einfach abschreiben. „Im August 1992, als die Hundstage ihrem Ende zugingen, machte ich mich auf eine Fußreise durch die ostenglische Grafschaft Suffolk in der Hoffnung, der nach dem Abschluß einer größeren Arbeit in mir sich ausbreitenden Leere entkommen zu können.“ So beschaulich und gleichzeitig so einfach und direkt begannen früher einmal Erfah-rungsberichte von Entdeckungsreisenden. So beginnt das aktuelle Buch Die Ringe des Saturn des im Allgäu geborenen, seit 25 Jahren in Großbritannien lebenden Schriftstellers W. G. Sebald. Und wie mit diesem ersten Satz, so geht es einem bei der Lektüre des ganzen Buches: Man fühlt sich wie aus der Gegenwart gefallen. Wobei dieses Gefühl in keinster Weise stört. Denn die Wanderschaft durch Suffolk erweist sich als eine wahre Entdeckungsreise.

Der Erzähler als Wanderer. Eine dünn besiedelte Landschaft an der englischen Ostküste. Was gibt es da zu entdecken? Mehr, als der erste Blick sich träumen ließe. Der Erzähler folgt jedem noch so kleinen Hinweis, manchmal auch nur Assoziationen und Träumen, und so führt seine Wanderung quer durch die Zeiten und, so möchte es scheinen, durch die ganze Welt. Denn die Geschichte des weltumspannenden britischen Kolonialreichs, die Entwicklung der Wissenschaften oder die großen Kriege dieses Jahrhunderts, sie haben auch hier Spuren hinterlassen. Und Sebald bringt sie zum Sprechen, so gering sie auch sein mögen.

Ein Schädel aus dem 17. Jahrhundert, der in einem Krankenhaus aufbewahrt werden soll, bringt den Erzähler auf Rembrandts berühmtes Gemälde der Sektion des gehängten Amsterdamer Stadtgauners Aris Kindt durch den Anatomen Dr. Nicolaas Tulp. Heruntergekommene Ungetüme von Palästen erzählen vom Glanz und Verfall des britischen Empire. Über einige Scherben gelangt der Erzähler zu den chinesischen Boxeraufständen. Und dann haben ja auch noch eine Reihe von interessanten Menschen in Suffolk gelebt, Joseph Conrad zum Beispiel, ein anderer Entdeckungsreisender, dem Sebald sich verbunden fühlt.

Sebald liebt die Aufzählung, und so stehen solcherart Geschichten, Recherchen, Anekdoten nebeneinander, verbunden allein durch das Motiv der Wanderung. Der Erzähler als Flaneur durch die Zeiten. Schreiben im Dialog mit der Geschichte. Suffolk oder die Kunst der Abschweifung. Die „größere Arbeit“, von der der erste Satz spricht, dürfte übrigens Sebalds letztes Buch Die Ausgewanderten gewesen sein.

Dirk Knipphals

„Die Ringe des Saturn“, Eichborn-Verlag; Lesung heute, 20 Uhr, Literaturhaus

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