■ Beginnt in Japan die Ära eines neuen Zweiparteien- systems? Interview mit dem Politologen Takashi Inoguchi
: „Einen Ausweg kann es nur durch Neuwahlen geben“

taz: Nach dem Rücktritt von Premierminister Murayama am Freitag vergangener Woche steht Japan vor einem Zweikampf der bekanntesten Politiker des Landes: Der Liberaldemokrat Ryutaro Hashimoto wird die Regierung führen, der Chef der „Neuen Fortschrittspartei“, Ichiro Ozawa, die Opposition. Beginnt damit die Ära eines neuen Zweiparteiensystems?

Inoguchi: So weit würde ich heute noch nicht gehen. Das versprochene Zweiparteiensystem befindet sich weiterhin in der Entwicklungsphase, und es gibt keinen Grund, an seine unmittelbare Verwirklichung zu glauben. Den Grund für den Rücktritt des Premierministers sehe ich woanders: Murayama hätte es sehr bald mit einer scharfer Kritik im Parlament zu tun gehabt. Die im Dezember bekanntgegebenen Regierungspläne zur Rettung der bankrotten Wohnungsbaufinanzierungsgesellschaften wurden in der Öffentlichkeit und von den großen Zeitungen heftig angegriffen. Viele Japaner sind bisher nicht bereit, Steuergelder aufzubringen für die Überwindung von Finanzproblemen, die noch aus den Spekulationsjahren herrühren. Murayama war sich deshalb im klaren darüber, daß sein gesamter Staatshaushalt, der in Japan bis April verabschiedet werden muß, im Volk auf wenig Unterstützung stoßen würde. Das wiederum könnte insbesondere für seine sozialdemokratische Partei negative Folgen bei vorgezogenen Parlamentswahlen haben.

In dieser Situation ging es Murayama vor allem darum, die bestehende Regierungskoalition aus den drei Parteien – Liberaldemokraten, Sozialdemokraten und eine kleine liberale Partei – zu stabilisieren. Diesem Zweck konnte er jetzt am besten dienen, indem er dem größten Koalitionspartner die Regierungsführung überließ.

Der designierte Regierungschef Hashimoto gilt einer der charismatischsten Politiker Japans. Sehen Sie in ihm bereits den zukünftigen starken Mann?

Noch erscheint er mir nicht als der neue Führer des Landes. Vorerst stellt auch er nur eine Übergangslösung bis zu den nächsten Wahlen dar. Auch damit hatte Murayama natürlich kalkuliert. In Wirklichkeit liegt die Notwendigkeit für alle Parteien und das gesamte politische System in Neuwahlen.

Was erhoffen sich die Japaner von Neuwahlen?

Selbst für uns, geschweige denn für Ausländer, war die japanische Parteipolitik in den vergangenen Jahren schwer zu verstehen. Sowohl Parteiprogramme als auch Parteienkoalitionen wechselten vor dem Hintergrund schwieriger Ereignisse wie dem Erdbeben in Kobe oder der Finanzkrise, ohne daß die Regierung auf neue Situationen schnell und effektiv reagieren konnte. Viele teilen deshalb die Auffassung, daß Japan eine irgendwie effektivere und transparentere Regierung braucht, die aus meiner Sicht ohne Neuwahlen nicht zustande kommen kann.

Wo sehen Sie im Hinblick auf Wahlen die wichtigsten Unterschiede zwischen Regierung und Opposition? Grob gesehen scheint sich die Regierung heute auf schwächere Schichten zu stützen, die am Sozialkonsens der Nachkriegszeit festhalten wollen, während die Opposition liberale Reformen befürwortet, wie sie die Großkonzerne fordern.

Die Analyse der politischen Parteien nach sozialen Klassenunterschieden führt nur selten zu einem richtigen Verständnis der japanischen Politik. Allgemein läßt sich sagen, daß die Liberaldemokraten für etablierte soziale Gruppen wie Bauern, Einzelhändler und gut organisierte Teile der herstellenden Industrie eintritt. Die oppositionelle Neue Fortschrittspartei steht vielleicht den neuen urbanen Schichten, also Angestellten und Verbrauchern, etwas näher. Doch das alles gilt in sehr eingeschränktem Maß.

Grundsätzlich werden japanische Wahlen im Wahlkreis entschieden, wo die Persönlichkeit der Kandidaten und ihr lokales Netzwerk einen extrem großen Einfluß besitzen. Wahlkämpfe haben deshalb in Japan einen hochgradig personalisierten Charakter und sind an einer spezifischen Wahlklientel orientiert. In diesem Kontext lassen sich die Parteien sehr schwer nach ihrer sozialen Klassenangehörigkeit oder etwa ihrem Verhältnis zur Großindustrie unterscheiden. Die Unterschiede sind diesbezüglich eher gering.

Wird die japanische Politik damit immer so unverständlich bleiben wie heute?

Trotz der Ähnlichkeiten, von denen ich sprach, gibt es zwischen Liberaldemokraten und Neuer Fortschrittspartei erkennbare Unterschiede: Die Liberaldemokraten bevorzugen in der Wirtschaftspolitik eine Mischung aus staatlicher Regulierung und freiem Wettbewerb.

Die Opposition gibt hier der Deregulierung und Marktliberalisierung ein etwas, wenn auch nicht viel größeres Gewicht. Diese Unterschiede werden allerdings von den westlichen Massenmedien höher bewertet als von den japanischen Wählern.

Bewerten wir auch den Einfluß des neuen Regierungschefs zu hoch?

Unabhängig davon, wie lange Hashimoto Premierminister sein wird, wird er in den nächsten Jahren als Führer der größten Partei des Landes eine entscheidende Rolle spielen. Innerhalb der Liberaldemokraten hat sich um seine Person herum ein weitreichender Konsens gebildet.

Gehören damit Gerüchte von einer Spaltung der Liberaldemokraten, wie sie vor zwei Jahren den Regierungswechsel einleitete, der Vergangenheit an?

Wenn es noch weitere Umbildungen im Parteiensystem geben wird, dann sehe ich nur die Chance für die Absorbierung einiger Kritiker in der Opposition durch die Liberaldemokraten. Auch einige Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei könnten unter dem neuen Namen einer Demokratisch-sozialen Allianz zu den Liberaldemokraten stoßen.

Wieviel Chancen hat eine dritte politische Kraft, die – orientiert an Menschenrechten, der Umweltproblematik und neuen sozialen Fragen – von Teilen der Sozialdemokratischen Partei sowie einigen kleineren Parlamentsgruppen anvisiert wird?

Eine starker Teil der Öffentlichkeit ruft immer noch nach der Bildung einer solchen Koalition. Aber die Kraft dieser Strömungen, sich zu einer ernstzunehmenden Partei zu vereinigen, erscheint mir sehr begrenzt. Interview: Georg Blume, Tokio