: Tod in Chinas Waisenhäusern
Jährlich kommen in Heimen Tausende Kinder um. Das Sterben hat System: Überzähliger Nachwuchs soll verschwinden. Das werfen MenschenrechtlerInnen den Pekinger Machthabern vor ■ Von Jutta Lietsch
Berlin (taz) – „Wir schauten in das Totenzimmer. Da lagen sieben Leichen aufgestapelt“, berichtete die Shanghaier Stadtverordnete Gao Junzhu entsetzt. Im Shanghaier Waisenhaus waren allein an diesem Tag im Dezember 1991 sieben Kinder gestorben. Was Gao der Stadtverwaltung mitteilte, ist kein Ausnahmefall: Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch/Asia legte gestern einen Report vor, wonach jährlich Tausende Kinder in chinesischen Heimen – an Unterernährung, Mißhandlung, Vernachlässigung – sterben. Über 70 Prozent aller Kinder, die im vergangenen Jahrzehnt in staatliche Waisenhäuser eingeliefert wurden, kamen dem Bericht zufolge dort um. Allein im Shanghaier Waisenhaus seien es zwischen 1986 und 1992 über 1.000 Kinder gewesen. Die 331 Seiten umfassende Dokumentation stützt sich stark auf Material der chinesischen Ärztin Zhang Shuyun, die zwischen 1988 bis 1993 in dem Shanghaier Heim beschäftigt war. Anfang der neunziger Jahre hatte sie dem Bericht zufolge mit einigen anderen Angestellten versucht, gegen den Heimleiter vorzugehen. Vergeblich. Der Direktor, der die Quälereien nicht nur duldete, sondern nach Zhangs Aussagen selbst ein Kind vergewaltigt und andere mißhandelt hat, stand unter dem Schutz hochrangiger Parteimitglieder. Eine städtische Untersuchungskommission wurde nach kurzer Zeit mundtot gemacht. Zhang konnte im vergangenen Jahr das Land verlassen und dabei zahlreiche interne Dokumente und Augenzeugenberichte mitnehmen. „Ich sah Shen Qi, wie sie gefesselt war“, heißt es in einem Brief eines Kindes, das der Ärztin berichtet, wie ein anderes Mädchen im Heim bestraft wurde. Ein Beamter „band ihre Hände ... zusammen, zog ihre Hosen halb herunter, setzte sie auf die Toilette und gab ihr eine Spritze mit Schlafmitteln. Sie hing dort eineinhalb Tage lang.“
Gestützt werden diese Berichte durch grauenhafte Bilder sterbender Kinder, die ein ehemaliger Insasse aus dem Land schmuggeln konnte. Auch offene Statistiken und Berichte zeigen nach Ansicht von Human Rights Watch/Asia, daß das Sterben in Chinas Heimen „Ergebnis einer vorsätzlichen Politik ist, die die Verringerung von Kindern zum Ziel hat, die von ihren Eltern verstoßen wurden. Viele von ihnen sind geboren worden, obwohl es gegen die staatliche Familienplanung verstößt.“ Es habe sogar in einigen Waisenhäusern festgelegte Quoten gegeben, wie viele Kinder überleben durften. Offiziell leben in dem 1,2-Milliarden-Land 20.000 Waisen in Heimen. Die Einkindpolitik hat vor allem auf dem Lande dazu geführt, daß Familien alles dafür tun, einen Sohn zu bekommen. Zahlreiche Studien und Zeitungsberichte weisen darauf hin, daß die ausgesetzten Kinder fast ausschließlich Mädchen und Behinderte sind. ChinesInnen, die ein zweites Kind adoptieren wollen, werden in der Regel daran gehindert. AusländerInnen stoßen auf weniger Probleme, wenn sie ein chinesisches Kind adoptieren wollen, gegen einige tausend Dollar.
Die chinesische Regierung hat die Vorwürfe zurückgewiesen. Diese dienten nur dazu, „die dunklen politischen Motive“ von Human Rights Watch offenzulegen und „ihre Feindschaft gegenüber dem chinesischen Volk“ zu zeigen.
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