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In Kobe spiegelt sich die Zukunft

Ein Jahr nach der Erdbebenkatastrophe sind die Trümmer weggeräumt. Doch das soziale Elend der Opfer zeigt die Gefahren für die japanische Solidargemeinschaft  ■ Aus Kobe Chikako Yamamoto und Georg Blume

Mika Ishida trägt die blaue Firmenjacke einer kleinen Bäckerei in Kobe. Der alten Frau fehlen die Vorderzähne, in Japan ein Zeichen von Armut. „Irashaimasen – Willkommen!“ ruft die Kuchenverkäuferin von Kobe von morgens bis abends den Vorbeigehenden zu. Daran hat sich für Mika Ishida nichts geändert. Doch statt in ihrem alten Holzladen, den das Erdbeben vor einem Jahr verschüttete, arbeitet sie heute in einer winzigen Wellblechbaracke, welche die Behörden errichten ließen. „Bei mir will keiner mehr stehenbleiben“, sagt die Alte nun. „Schauen Sie doch nach oben: Wie unheimlich das aussieht.“

Über dem Kuchenstand von Mika Ishida rollte einst die Autobahn Nr. 2 von Kobe nach Osaka. Ihr Bild vom vergangenen Januar, als sich das riesige Asphaltwerk unter den Erschütterungen über hunderte von Metern dem Boden zugeneigt hatte, symbolisierte den schaurigen Anblick einer tief getroffenen Nation. Japan war nicht länger der Sieger des Kalten Krieges. „Das Gefühl der Überlegenheit ist zerstört“, bilanzierte der Philosoph Shuichi Kato. Noch ein Jahr später lassen sich die sozialen, politischen und psychologischen Folgen des Erdbebens vom 17. Januar 1995 kaum ermessen. Nur die wirtschaftlichen Schäden im betroffenen Kobe waren geringer als erwartet: Auf ursprünglich 140 Milliarden Mark veranschlagt, beziffert sie das Rathaus derzeit auf 84 Milliarden Mark.

Über dem Kuchenstand unter der Autobahn Nr. 2 ist der Himmel heute frei. Ein einsamer Straßenpfeiler ist stehengebliben, auf dessen Spitze – unerreichbar – ein Autobahn-Notruftelefon ins Blaue ragt. Die Ruine wirkt so unheimlich, weil sie immer noch dokumentiert, daß hier am Morgen des Bebens jeder Hilferuf zwecklos war. Nicht nur für die Autobahnopfer kam jede Hilfe zu spät. Vom Kommunalbeamten bis zum Premierminister, von der lokalen Feuerwehr bis zur Armee mit dem drittgrößten Budget der Welt, versagte in Kobe der Staatsapparat des angeblich sichersten Landes auf Erden. Der Feuerwehr fehlte das Löschwasser und der Armee ein Einsatzbefehl, während Menschen im Feuer verbrannten. „Ich will nicht mehr darüber reden“, sagt die traurige Kuchenverkäuferin Ishida. „Bis alles vorüber ist, lebe ich vielleicht nicht mehr.“

Kobe wird nie wieder Kobe sein. Obwohl das Erdbeben mit der Stärke 7,2 auf der Richterskala nur 20 Sekunden währte, legte es Teile der 1,5-Millionen-Stadt in Schutt und Asche. 6.308 Menschen starben nach jüngsten Zählungen an den Folgen des Bebens. Dabei sagen die erschreckenden Opferbilanzen noch längst nicht alles über die menschlichen Schicksale in der Erdbebenstadt.

Der 42jährige Fischhändler Takashi Uhara konnte seine vier Töchter notdürftig versorgen, bis ihn der Erdstoß seiner wichtigsten Habe beraubte: dem Laden mitsamt eines teuren Kühlsystems. Glück im Unglück begleitete die Uhara-Familie, als alle Angehörigen aus den Ruinen geborgen werden konnten. „Fünf Minuten später hätten mich die Flammen erwischt“, sagt Uhara. „Wir haben alle überlebt und alles verloren.“

Acht Monate lang kam die Familie in einer der Schulen unter, die den annähernd 400.000 Obdachlosen des Erdbebens als Notquartiere geöffnet wurden. Ende August mußte Uhara auf Befehl der Behörden die Schule wieder verlassen. Da als billige Alternative nur eine der staatlichen Barackenwohnungen außerhalb der Stadt in Frage kam, zog die Familie in eine Mietwohnung, deren Preis ihr derzeitiges Einkommen übersteigt. Für den Wiederaufbau des Fischladens reichten weder die Ersparnisse noch gaben die Banken einen Kredit. Von staatlicher Hilfe für Selbständige ist bis heute keine Rede.

Uhara blieb nichts anderes übrig, als sich den anderen Ladenbesitzern seines Stadtviertels anzuschließen und in einer auf Trümmern behelfsmäßig hergerichteten Markthalle einen kleinen Stand für Haushaltsgeräte einzurichten. „Wenn mich die Nachbarn fragen, wann mein Fischladen wieder aufmacht, tut mir das Herz weh“, klagt Uhara. „Wie es weiter geht, weiß ich nicht.“

Zum Jahreswechsel feierten die Einzelwarenhändler in dem vom Erdbeben besonders hart getroffenen Stadtviertel Nagata in Kobe die Eröffnung ihrer Markthalle. „Gesundes Wiederaufbaudorf“ tauften sie die Baracke, in der auf 500 Quadratmetern 40 Läden Platz finden – von Uharas Haushaltsladen über die Nudelsuppenbar bis zum Bioladen. Doch der Glanz des Nagelneuen trügt: Wie der unglückliche Uhara kämpfen auch die anderen Ladenbesitzer in Kobe ums wirtschaftliche Überleben und haben alle Aussichten, den Kampf zu verlieren.

Früher war Nagata ein Stadtviertel wie viele andere in Japan: Es glich einem alten Holzdorf inmitten einer futuristischen Metropole. Nun aber droht Kobe das Schicksal, Japans anonymste Großstadt zu werden. Denn das Erdbeben zerstörte fast ausschließlich alte Holzbauten, in denen Kobes Alte und Arme wohnten.

Schon sorgt das Rathaus mit optimistischer Stimmungsmache („Kobe steht wieder auf“) und neuen urbanen Entwicklungsprojekten für die Verdrängung der Katastrophe. Die Stadtväter wollen da weitermachen, wo sie vor dem Beben angelangt waren: Großprojekte wie die künstlichen Inseln im Hafen ausbauen und moderne Siedlungen schaffen, wo das Erdbeben nur Staubwüsten hinterlassen hat. „90 Prozent aller Trümmer sind bereits weggeräumt“, erklärt Rathaussprecher Seiichi Sakurai. „Zwar reagierte unsere Bürokratie im Moment der Katastrophe zu langsam und unflexibel. Doch zeigen sich heute die Stärken des Systems: Nach dem Erdbeben in Los Angeles, wo die Rettungseinsätze besser funktionierten, dauerten die anschließenden Aufräumarbeiten um Jahre länger.“

Die Wiederaufbauerfolge helfen denen, die genug Geld haben: Große Kaufhäuser, Banken und Unternehmen sind längst dabei, ihre Einrichtungen in noch größerem Glanz als vor dem Beben wiederherzurichten. Die schnelle Wiederherstellung der Verkehrswege, die in Kobe als vorbildlich gepriesen wurde, führte zum raschen Wiedererstarken der Wirtschaft. Der fast völlig zerstörte Hafen soll 1996 vollständig restauriert sein.

Auf der Strecke bleiben diejenigen, denen entweder das Geld oder die Kraft zum Wiederaufbau fehlen: Wirtschaftlich gesehen sind es die kleinen Betriebe der in Kobe heimischen Schuhindustrie. Für sie gibt es kein zweites Wirtschaftswunder, weil Schuhe in China längst billiger hergestellt werden. Ebenso ergeht es zahlreichen Zulieferunternehmen der großen Konzerne. Das Aussetzen der Lieferungen nutzen die großen Unternehmen, um Verträge aufzulösen und auf billigere Quellen im Ausland umzusteigen.

Der 59jährige Zimmermann Tetsu Kashiyama war Mitarbeiter einer Stahlwerkstatt in Kobe, die wie viele Kleinunternehmen nach dem Erdbeben schließen mußte. „Der Sohn meines Firmenbesitzers starb beim Beben, alle Maschinen waren kaputt, und der alte Chef zog sich aufs Land zurück“, erzählt der arbeitslose Alte. Für seine Versorgung müssen heute Sohn und Schwiegertochter aufkommen, mit denen Kashiyama vor kurzem in eine staatliche Barackenwohnung auf der künstlichen Insel Rokko vor dem Hafen von Kobe einzog.

Auf Rokko offenbart sich das andauernde Elend der Erdbebenopfer. In endlosen Reihen, eine Hütte der anderen gleich, ließen die Stadtbehörden auf dem ungenutzten Bauland der Insel Tausende von Wellblechbaracken errichten, die nun als sogenannte „vorübergehende Unterkünfte“ für die verbliebenen Obdachlosen dienen. Auf 10 Quadratmetern haben sich mittellose Familien, Ehepaare und Rentner ein bescheidenes Leben eingerichtet, das den meisten von ihnen keinerlei Zukunft verspricht. „Wir frieren in der Winterkälte, haben unsere Ersparnisse aufgebraucht, kennen unsere Nachbarn nicht und ziehen uns in die Einsamkeit zurück“, beschreibt der 75jährige Moto Shinoda, ein ehemaliger Kunsthändler, die Lage im Barackendorf.

Mehrmals am Tag heult der Krankenwagen auf Rokko. Für die Barackenbewohner ist das jedesmal eine Schrecksekunde. „Wann bin ich an der Reihe, geht es mir durch den Kopf“, sagt Zimmermann Kashiyama. Mit dem Leben in den Baracken begann auch ein neues Sterben: Von „Kodoku-shi“, dem „einsamen Tod“, sprechen heute die Menschen in Kobe – eine Worterfindung, welche das Schicksal der zumeist älteren Erdbebenopfer beschreibt, die in ihren Baracken ein einsamer Tod erwartet. Zu den Kodoku-shi zählen auch Selbstmorde. Auf Rokko ging ein 80jähriger Mann um Mitternacht einsam in die Fluten. Das Meer trug seinen Körper am nächsten Morgen an den Strand.

Solche Schicksale sprechen Bände über die Entsolidarisierung unter den Bürgern von Kobe. Noch am Tag nach der Katastrophe zählten sich alle 1,5 Millionen BürgerInnen der Stadt zu ihren Opfern. In den folgenden Wochen blühte in Kobe ein nachbarschaftliches System der Selbstversorgung auf, das Menschen aller Schichten zusammenbrachte. Nie gesehene Scharen von freiwilligen Helfern aus dem ganzen Land zelteten in der Erdbebenstadt und brachten neben Hilfsmitteln und Spenden auch menschliche Wärme für die Alleingebliebenen. „In Kobe ist Japans Freiwilligengeist erwacht“, berichteten die Medien.

Nichts von alldem hat das Jahr überlebt. Wer heute noch hilft, sind die ewig Hilfsbereiten. Vor dem Rathaus von Kobe hat der 41jährige Sozialarbeiter Hiroyuki Muruya ein Beratungszelt für von den Stadtbehörden abgewiesene Bürger eingerichtet: „Vom anfänglichen Solidaritätsgefühl ist nur der Streit unter den Opfern geblieben“, sagt Muruya. „Statt nach Mietsubventionen zu fragen oder mit dem Arzt private Probleme zu erörtern, weisen sich die Betroffenen untereinander die Schuld zu. Das zeigt natürlich nur ihre Hilflosigkeit. Viele Opfer benötigten neben materiellen Hilfen dringend eine psychologische Betreuung. Doch in Japan wird derjenige, der mit einem Psychiater spricht, immer noch für verrückt erklärt.“

So würde es um die Opfer von Kobe von Tag zu Tag stiller werden, wenn nicht wenigstens die Zeitung vor Ort aufgewacht wäre: „Unser Vorbild ist heute die Zeitung von Hiroshima, die seit 50 Jahren nicht aufhört, über das Schicksal der Atombomben- und Strahlungsopfer in aller Welt zu berichten“, erläutert Sadao Ohta von der Kobe Shinbun. Wie in einem Brennglas spiegelten sich in Kobe die Probleme der modernen Gesellschaft: Die Altersversorgung außerhalb der alten Dorfstrukturen, die Wegrationalisierung der Kleinbetriebe und des Einzelhandels, gekoppelt mit der wachsenden Arbeitslosigkeit, und die soziale Einsamkeit seien die wahren Probleme des 21. Jahrhunderts. „Über das Erdbeben in Kobe zu schreiben, heißt über die Zukunft Japans zu schreiben“, meint der von zwölf Monaten Erdbebenberichterstattung völlig erschöpfte Reporter.

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