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„Jassir Arafat belügt die Palästinenser“

Am 20. Januar finden im Westjordanland und im Gaza-Streifen erste palästinensische Wahlen statt. Doch die Art, in der Jassir Arafat die Abstimmung vorbereitet, ähnelt den Herrschaftsmethoden nahöstlicher Despoten  ■ Edward Said über den PLO-Chef:

Palestine Report: Trotz aller Kritik: Bei den Wahlen am 20. Januar werden die Palästinenser für die traditionelle Führung stimmen und deren Art, die Dinge anzupacken.

Said: Ich denke, Sie haben recht. – Unglücklicherweise. Bei uns ist es keine Tradition, daß Führer bereit sind, ihren Platz zu räumen. Ich habe immer vertreten, daß Arafat vor der Unterzeichnung des Oslo- Abkommens, nachdem die Verhandlungen abgeschlossen waren, vor sein Volk hätte treten sollen. Er hätte klar sagen müssen: „Dies ist das Beste, was ich erreichen konnte. Wenn Ihr das wollt, bleibe ich. Wenn Ihr das nicht wollt, laßt jemand anderen die Führung übernehmen.“ Arafat hätte vor allem die Wahrheit über das Abkommen sagen müssen. Die erzählt er nie. Arafat spricht vom Anfang eines palästinensischen Staates. Das ist es nicht. Es ist die Fortsetzung der Besatzung. Arafat streut Sand in die Augen mit seinen Reden von Jerusalem als der „Hauptstadt des unabhängigen palästinensischen Staates“. Das ist totaler Unsinn, auch wenn er es noch so oft wiederholt. Arafat muß offen aussprechen, welche Konzessionen er gemacht hat. Er muß den Palästinensern darüber Rechenschaft ablegen. Das hat er nicht gemacht. Jassir Arafat belügt die Palästinenser, und die haben Angst, ihn zu fragen. Ich spreche von Verantwortlichkeit. Schließlich geht es um nationale Prinzipien: Das Ende der Besatzung, Rückzug der israelischen Armee, Rückzug der Siedlungen, Rückkehr zu den Grenzen von 1967. Warum diese Kapitulation? Klar, wir haben die Schlacht verloren. Wir sind geschlagen, das ist gar keine Frage. Aber man kann auch bei einer Niederlage handeln. Arafat verhält sich wie ein Sklave. Er sucht vor allem die Gunst der Israelis. Im Oslo-II-Abkommen gibt es eine Klausel, die Israel von allem entlastet, was während der Besatzungszeit geschehen ist. Damit wird gesagt: Alles, was bis 1995 geschehen ist, dafür trägt Israel keine Verantwortung mehr. Dabei haben sie allein während der Intifada Tausende von Menschen getötet. Wer hat das erlaubt?

Mit welchem Recht hat Arafat dies aushandeln können? Was sich vor unseren Augen abspielt, ist eine Tragödie. Es macht mich rasend, daran auch nur zu denken. Wieso sind andere Leute in Palästina nicht auch ärgerlich darüber? Das kann ich nicht verstehen. Die Menschen müssen sehr müde sein.

Einige Palästinenser sagen: wir haben keine Alternative. Die Palästinenser haben keinen Einfluß auf internationaler Ebene.

Gut, dann sollte Arafat seinem Volk wenigstens anbieten: „Ich kann es nicht besser machen. Könnt ihr?“ Er soll anderen Leute eine Chance geben. Doch inzwischen ist er von einem der korruptesten Regime im Nahen Osten umgeben, dazu noch inkompetent. Es wird zu viel verheimlicht, und zu häufig werden Illusionen als Realität dargestellt. Ich glaube nicht an das Motto „Dies macht doch nichts, das ist doch nur der Anfang eines Prozesses.“

Viele palästinensische Intellektuelle denken ebenso wie Sie, aber sie sprechen es nicht aus, weil sie glauben, daß das keinen Sinn hat.

Das stimmt nicht. Ich habe die Hoffnung, daß sich noch so etwas wie ein kritischer Diskurs entwickelt. Wir haben ihn bitter nötig. Wir haben darin keinerlei Tradition. Jedem Palästinenser steckt es in den Knochen, den Herrscher zu verehren. Schon öffentlich über die Probleme zu schreiben kann Veränderungen bewirken. Es ist die bescheidene Hoffnung auf eine Veränderung im Bewußtsein, eine größere Bewußtheit, eine Änderung der Einstellung.

Sie haben mit der palästinensischen Führung zu tun gehabt und wissen, wie sie funktioniert. Haben Sie heute noch Kontakte?

Nein, warum sollte ich? Wenn man mit der Führungs-Clique redet, wird man von ihr kooptiert. Ich ziehe es vor, über sie statt mit ihr zu reden.

Glauben Sie, es käme etwas Sinnvolles dabei heraus, wenn Arafat die palästinensische Führung öffnen und andere Personen integrieren würde?

Natürlich. Wir Palästinenser sind schließlich ein Volk, nicht ein Haufen von Nachbetern. Er sollte sich dem Volk gegenüber öffnen. 3,5 Millionen Palästinenser leben außerhalb Palästinas. Die stellen Fragen, auf die er antworten muß. Er kann nicht behaupten, er sei ihr Repräsentant.

Wohin führt der Friedensprozeß Ihrer Meinung nach?

Wir sind dabei, Homelands zu bekommen, wie sie von den Schwarzen Südafrikas während der Apartheid ausgehandelt wurden. Wir sind dabei, Stammesführer zu bekommen. Arafat ist einer. Er hat einen Unter-Stammesführer in Jericho sitzen, und so weiter. Aber die Kontrolle, die Souveränität, die wirkliche Macht liegt weiterhin in den Händen der Israelis, die sie niemals abgeben werden, es sei denn, man drängt sie dazu.

Können die Palästinenser das?

Natürlich können wir.

Was könnten die Palästinenser im Ausland dazu beitragen, daß sich die Dinge ändern?

Wir haben schwerreiche Kapitalisten. Die versuchen derzeit natürlich alle, in Gaza schnelles Geld zu machen. Wir haben eine außergewöhnlich breite Schicht von Fachleuten. Wir haben eine hoch politisierte Basis von wirklich mitfühlenden Palästinensern im Libanon, in Jordanien, in Ägypten, Europa und in den USA. Diese Leute haben ein enormes Kapital einzubringen – Finanzmittel, kulturelle Fähigkeiten, Fachwissen und Berufserfahrung. Die PLO hat während ihres Kampfes niemals versucht, die eigene Bevölkerung zu mobilisieren. Das müßte sie tun.

Diese Geschäftsleute, diese Experten, diese Akademiker, auf die Sie sich beziehen, engagieren sich traditionellerweise nicht für staatliche Aufgaben.

Dann müssen sie dazu gebracht werden. Wir müssen sie aufrütteln, sich einzumischen, ihnen zu verstehen geben, daß sie gewisse Rechte haben. Es geht nicht nur um Mitwirkung. Es geht auch um ein Gegengewicht gegen einen Mann, der glaubt, frei schalten und walten zu können, ganz wie er will. Hat er Palästina geerbt? Er nutzt die moralische Kapitulation tief im Inneren der Palästinenser für sich aus. Ich weigere mich, dies zu akzeptieren. Die Israelis haben Armeen, sie haben die USA und sie haben Geld. Aber wir haben moralische Rechte auf unserer Seite. Wenn wir daran nicht glauben, dann können wir auch ganz darauf verzichten, als Volk zu existieren. Arafat führt uns in diese Richtung. Sein Weg führt zum Ende Palästinas. Derzeit besteht das Ganze aus einer Ansammlung von Dörfern mit einigen Städten, Dschenin und Tulkarem und so weiter. Das ist kein Staat, das ist kein nationales Gebilde. Das ist noch unter der Kontrolle der Israelis. Die Siedlungen sind noch hier. Wie kann Arafat ein Abkommen mit den Israelis schließen, und die 450 Siedler leben immer noch in Hebron? Wie kann er dem zustimmen? Auf welcher Grundlage? Seine Hauptwaffe in den Verhandlungen ist es doch, nicht zu unterschreiben. Sie können nicht sagen „wir haben Frieden“, wenn er nicht unterschreibt.

Er will Geld für sein Volk. Und er bekommt es nicht, wenn er nicht unterschreibt.

Welches Geld? Er bekommt Geld für seine Polizei, nicht für ein Volk. Ich kenne den Einwand: „Die Israelis haben sich geändert, Rabin war ein Kämpfer für den Frieden ...“ Aber seine Soldaten sind noch dort. Arafat bekommt keinen Frieden, sondern nur eine patriarchalische Fortführung der Besatzung.

Aber selbst der kleinste Schritt kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Die Israelis haben zwei Drittel des Gaza-Streifens verlassen, und wenn sie sich aus den Städten im Westjordanland zurückziehen, werden sie nicht mehr wiederkommen.

Warum sollten sie zurückkommen? Sie haben darum gebangt, Gaza endlich abgeben zu können. Wie kommentierte Rabin die Übergabe des Gaza-Streifens an die Autonomieverwaltung? – „Das ist besser für uns. Auf diese Weise brauchen wir uns nicht mit [der isralischen Menschenrechts- Organisation] B'Tselem herumzuärgern.“ Vertreter des israelischen Staates geben überall in den USA Vorlesungen, in denen sie betonen: „Wir können das jederzeit wieder rückgängig machen und in die Gebiete der Autonomieveraltung hineingehen.“ Sie sagen es ganz offen. Und Rabin hat zu seinem Volk, zu den Rechten, vor Likud-Anhängern gesagt: „Worüber beschwert ihr euch? Wir haben alles in der Hand. Wir haben doch nichts Wichtiges abgegeben. Wollt ihr Dschenin?“ Natürlich wollen sie Dschenin nicht. Was sollten sie damit anfangen? Wollen sie Nablus? Wollen sie Ramallah? Sie fahren drumherum, das wollen sie. Die Situation entspricht derjenigen von früheren Townships in Südafrika. In Soweto haben Sie niemals einen Weißen gesehen, die kamen nie rein. Aber um Soweto herum waren die Kontrollen, und sie konnten jederzeit eine militärische Aktion nach Soweto hinein unternehmen.

Sie fordern Änderungen in der Einstellung. Doch angesichts der genannten Traditionen, vor diesem Hintergrund, angesichts eines solchen Regimes wie dem von Arafat – was erwarten Sie?

Die Situation der palästinensischen Führung ist hoffnungslos. Da wird es keine Änderung geben. Arafat und Co, die sind alle gleich. Die haben keine Vorstellung von Demokratie. Die haben niemals unter demokratischen Verhältnissen gelebt. Die wissen nicht, was lebendige Demokratie ist. Keiner von ihnen hat jemals Steuern gezahlt. Sie wissen nicht, was es bedeutet, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Sie haben keine Ahnung davon, was freie Wahlen sind, was politische Beteiligung bedeutet. Nehmen Sie die palästinensischen Wahlen am 20. Januar: Die finden nach knapp einem Monat Wahlkampf statt. In den USA haben wir Ende 1996 Wahlen, da hat der Wahlkampf bereits begonnen. Der dauert ein Jahr lang.

Wenn man Sie so reden hört, wird man Ihnen entgegnen: „Der ist ja Amerikaner geworden. Der denkt, unsere Situation ist mit der in den USA vergleichbar“ – und man wird Sie links liegenlassen.

Das muß sich ändern. Die junge Generation muß es machen, die Dinge anders anpacken. Die Alten werden sich nicht mehr ändern.

Übersetzung und Bearbeitung

der deutschen Fassung:

Thomas Hartmann

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