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„Die Bewegung von unten muß stark sein“

■ Die Schauspielerin Käthe Reichel über Tschetschenien, Heiner Müller und Bertolt Brecht

Die Schauspielerin Käthe Reichel vom Theater Berliner Ensemble übergab gestern in Bonn „dreizehneinhalb Pfund“ Unterschriften, damit die russische Menschenrechtsgruppe der Soldatenmütter den Friedensnobelpreis erhält. Die Mütter protestierten gegen den Tschetschenien-Krieg

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taz: Sie haben über 30.000 Unterschriften nach Bonn gebracht, damit die russischen Soldatenmütter in diesem Jahr den Friedensnobelpreis bekommen. Weshalb engagieren Sie sich so?

Käthe Reichel: Weil das einmalig in der Geschichte der Menschheit ist. Die Geschichtsbücher berichten nichts darüber, daß es jemals Frauen gab, die dem Krieg 1.500 Kilometer hinterhergefahren sind und ihre Söhne mit den Händen aus dem Krieg geholt haben. Das ist ein Modell für die Welt. Das konnte nur in Rußland entstehen, wo keine Idee mehr da ist. Wo der Krieg in Tschetschenien nötig ist, weil man einen Staatsfeind braucht. Mir stand das Herz damals still, als ich hörte, wie diese Mütter in Tschetschenien nach ihren Söhnen suchten, wie die Tschetschenen sie ihnen übergaben und sagten: „Nehmt sie mit, nehmt sie, mit Kindern kämpfen wir nicht, die Russen sollen Männer schicken!“ Weil die dort noch eine gewisse Ethik haben.

Ich bin Schülerin von Brecht, dessen Gedicht „Ihr Mütter, lasset Eure Kinder leben“ mich ausmacht, was ich ganz bin.

Würden Sie sich wünschen, daß beispielsweise Rita Süßmuth Ihr Anliegen unterstützt? Jetzt wollte die Bundestagspräsidentin die Soldatenmütter nicht empfangen.

Ich denke nicht, daß ihre Freiheit so frei ist. Ich war noch nie in meinem Leben in einer Partei und kenne mich in diesem Parteiengefüge nicht aus, in dem ja immer Berechnung, ja Mathematik eine Rolle spielt: was man tut, was man läßt, oder wie weit man was tut. Ich denke, daß die Bewegung von unten so stark sein muß, daß die da oben gezwungen werden, etwas zu tun. Es ist unbedingt notwendig, daß das Nobelpreiskomitee einmal all denjenigen Mut macht, die sich mit soviel Engagement, Zeit, Geld und Opfer engagieren.

Jetzt, wo jeder ideologische Überbau weg ist, wo es kein Ziel, keine Hoffnung gibt, da gehen Menschen auf das zurück, was Brecht sagte: „Das Einfache, was schwer zu machen ist.“

Glauben Sie, der Militäreinsatz Jelzins wäre vermeidbar gewesen?

Die russischen Frauen sagen das, und sie haben recht. Man konnte verhandeln und kann weiter verhandeln, aber die russische Führung wollte das nicht. Vergessen Sie nicht, durch die hingerichtete Stadt Grosny geht die Ölpipeline vom Kaspischen Meer zum Schwarzen Meer, es ist in diesem Sinne ein Golfkrieg. Wenn Verteidigungsminister Rühe sagt, daß es darum geht, die Ressourcen der Welt zu beschützen, heißt das auch, fremde Ressourcen zu eigenen zu machen. Also, dann bekommt der Jelzin recht. Dann bekommt auch Clinton recht, der vor einigen Monaten gesagt hat, Jelzin tut das, was wir im Bürgerkrieg auch gemacht haben: das Land zusammenhalten.

Aber dort war damals wenigstens noch eine Idee mit verbunden, die Freiheit und die Demokratie. Aber dieser Ideenhimmel ist jetzt ganz weg. Reine Machtpolitik ist übriggeblieben. Und die Freiheit ist die Freiheit der Mafia.

Müßten sich unsere Politiker in diesem Krieg stärker einmischen?

Innerhalb ihres Formalismus tun sie das ja, mit diesen lauwarmen Statements nach dem Motto, Du, Du! Aber im Grunde geht es ihnen darum: Dann kann ich jetzt auch machen, was ich vorhabe. Wie sagte Heiner Müller so schön, nach dem Prinzip, eine Hand wäscht die andere: „Den möchte ich sehen, der sich mit einer Hand die Hände wäscht.“ Echtes Freiheitsengagement ist da nicht mehr.

Wissen Sie, welcher Freiheitsbegriff der ursprüngliche ist? Freihals! Der Mensch hat einen freien Hals, um zu sagen, was er will. Er wird nicht gestraft. Später wurde das umgekehrt, daß Freiheit Frechheit ist, in der Wirtschaft, politisch und mit Lug und Trug. Auch die Lüge, daß die Deutschen immer erklärten und geglaubt haben, die Verbrecher im ehemaligen Jugoslawien sind nur die Serben, das hat doch funktioniert. Aber jetzt geht das nicht mehr. Der Dampf in diesem Kessel hebt den Deckel, und der ist nicht mehr zu halten. Und der heißt Kroatien.

Sie sind geprägt worden unter Brecht und auch unter Müller. Was glauben Sie, ist deren Vermächtnis, was soll der Mensch, was soll der Künstler, politisch engagiert sein wie Sie?

Absolut! Von Brecht habe ich das mit der Muttermilch. Wenn ich irgendwie eine gute Schauspielerin bin, kommt das davon, daß ich das auf der Bühne bin und nicht spiele. Das Ziel von Brecht und Müller war, nicht spielen, sondern denken. Nichts kann interessanter für Zuschauer sein, als wenn sie jemanden öffentlich denken sehen. Schauspieler haben die verdammte Pflicht, bei den Texten, die Brecht und Müller hinterlassen haben, aber auch bei Shakespeare, als Nachdichter aufzutreten, also öffentlich zu denken und nicht diese Kolonialisierung des Textes zu betreiben. Nachdenken anregen und anstecken, auch darum muß es gehen.

Heißt das Ziel: Einmischung ist erste Bürgerpflicht?

Ja, absolut, unbedingt. Auch wenn ich weiß: Ich mache mir nicht nur Freunde. Aber erschrecken tue ich, wenn einem auf der Straße die Leute bewundernd auf die Schulter klopfen und sagen, ach, Sie haben ja soviel Mut. Dabei ist es nur ein Fingerhut voll. Interview: Holger Kulick

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