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Nicht nur Zurückhaltung

■ Die islamische Presse in der Türkei sympathisiert mit den Tschetschenen

Istanbul (taz) – „Die Tschetschenen leisten heldenhaften Widerstand“ heißt es auf der Titelseite der Milli Gazete, dem Organ der islamischen „Wohlfahrtspartei“, über den Angriff russischer Truppen auf das Dorf Perwomaiskaja. Die Nachricht von der Entführung des Schiffes „Avrasya“ (deutsch: „Eurasien“) in der Schwarzmeerstadt Trabzon wurde unkommentiert veröffentlicht. In der islamischen Presse der Türkei können die Tschetschenen auf Sympathie zählen.

„Rußland führt ein Massaker durch. Und dieses Massaker wird von den USA und von der Europäischen Union unterstützt“, schreibt die rechte islamische Tageszeitung Türkiye. Die Tschetschenen, sunnitische Muslime wie die Mehrheit der Türken, gelten als „Brudervolk“. Immer wieder wird auf Berührungspunkte in der Geschichte verwiesen. 1865 und nach dem Balkankrieg 1876 kamen Zehntausende Tschetschenen in die Türkei. Fast alle Tschetschenen in der Türkei haben sich assimiliert. Doch es gibt eine Reihe türkischer Bürger, die sich dennoch mit Stolz auf ihre tschetschenische Herkunft berufen.

Eine Reihe von Solidaritätsvereinen in der Türkei unterstützen die Politik des tschetschenischen Untergrundführers Dschochar Dudajew. In der Vergangenheit gingen sogar türkische Staatsangehörige in die Konfliktregion, um sich am Kampf der Tschetschenen gegen Rußland zu beteiligen. Unter den Bürgern tschetschenischer Herkunft sind auch Prominente, so der ehemalige Generalstabschef und jetzige Abgeordnete in Çillers „Partei des rechten Weges“, Dogan Gueres.

Demgegenüber ist die offizielle türkische Politik von Zurückhaltung geprägt, um die Beziehungen zu Rußland nicht zu belasten. Der Sprecher des türkischen Außenministeriums, Onur Öymen, betonte ausdrücklich, daß die Türkei für die Wahrung der „territorialen Integrität“ Rußlands eintrete. „Unser Öcalan (der Führer der kurdischen Arbeiterpartei PKK) heißt Dudajew“, sollen russische Diplomaten ihren türkischen Kollegen erzählt haben, um die brutale Politik in Tschetschenien zu rechtfertigen. Und die Berichterstattung in den großen türkischen Medien über die Entführung des Schiffes entspricht weitgehend der türkischen Außenpolitik in bezug auf Tschetschenien. Von „Terroranschlag“, von Barbarei ist die Rede, Entrüstung macht sich breit.

Es ist sicherlich kein Zufall, daß der islamische Fernsehsender TGRT gestern über Stunden hinweg eine Telefonverbindung zu dem entführten Schiff hielt und sowohl mit den Entführern als auch mit dem Kapitän und Passagieren Interviews führte. Die fielen dann auch ganz im Sinne der Entführer aus. Einer von ihnen – vielleicht sogar ein türkischer Staatsangehöriger – hielt lange politpropagandistische Reden in perfektem Türkisch. Nach einem Interview mit dem Kapitän, der auf die Entschlossenheit der Entführer hinwies („Um ihre Brüste sind Bomben umgebunden“), verlangte der Moderator freundlich nach den Entführern. „Können wir wieder unsere tschetschenischen Freunde sprechen?“ Und der Entführer sagte zum Abschluß des Gesprächs artig: „Ich möchte dem Fernsehsender TGRT für die Berichterstattung danken.“ Ömer Erzeren

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