Die Latschen Reinhold Messners

Dreimal neue, neueste und sogar „schmutzige“ Musik aus Straßburg, Wien und Berlin gibt es heute und morgen in Berlins kürzester Konzertreihe „ex negativo“ zu hören  ■ Von Christine Hohmeyer

New York, kurz vor Feierabend. In der Ferne heult eine Sirene. Maschinen stampfen, ein riesiges Tor schwingt knarrend auf. Militantes Getrommel zieht vorüber, metallene Schläge fallen brachial ein. Wieder erklingen Sirenen, diesmal schon näher. Etwas Gewaltiges detoniert.

Dieser akustische Maschinenalptraum steht im Mittelpunkt des Programms, mit dem das Schlagzeugensemble „Les Percussions de Strasbourg“ die Konzertreihe „ex negativo“ eröffnet: die „Ionisation“ für Schlagzeug von Edgar Varese. Hätte Varese nicht nur seine frühen Stücke, sondern auch dieses Klangbild von Stadt und Industrie aus dem Jahre 1931 vernichtet – die Musik des 20. Jahrhunderts sähe heute anders aus.

Nicht allein daß erst seit dieser Zeit das Schlagzeug in der Neuen Musik als eigenständiges Instrumentalensemble salonfähig ist. Auch die Ausweitung des Musikalischen auf Lärm und Geräusch, auf Alltagsklänge jeglicher Art ist zwar längst zu einer der wichtigsten Vitalisierungsquellen neuer Musik geworden, war zu Vareses Zeiten allerdings schockierend revolutionär.

Und das nicht nur fürs Publikum: Anläßlich der ersten Schallplatteneinspielung der „Ionisation“ trommelte Varese New Yorker Orchesterschlagzeuger zusammen, die angesichts der ungewohnten Musik kapitulierten. Varese spielte das Stück schließlich mit befreundeten Komponisten ein, wobei er selbst die beiden Sirenen bediente, die tatsächlich von der New Yorker Feuerwehr ausgeliehen waren.

Ein weitaus weniger populäres Stück auf dem Programm des Straßburger Ensembles ist „Chant après Chant“, ein Werk von Jean Barraqué aus den Jahren 1965/66 – unbekannt wohl auch deshalb, weil das Gesamtkunstwerk des französischen Komponisten sowieso eine Kuriosität darstellt. Mit monomanischer Energie kaprizierte Barraqué sich nämlich auf ein einziges Ziel: auf die großangelegte Vertonung des Romans „Der Tod des Vergil“ von Herrmann Broch in mindestens 13 Teilen.

Doch durch die minutiöse Beharrlichkeit des Komponisten und seine schneckenlangsame Arbeitsweise blieb das Lebenswerk deutlich unvollendet: Barraqué hinterließ aus dem Zyklus nur eine Reihe musikalischer Torsi und drei komplette Kompositionen, die zum Ausgleich für die fehlende Quantität jedoch bis ins kleinste Detail hinein seriell durchorganisiert sind. „Chant après Chant“ für sechs Schlagzeuger, Stimme und Klavier ist ein solches Restexemplar und damit ein Stück, das den rationalen Wahnsinn der Serialisten nachhaltig demonstriert.

Glücklicherweise hat sich die neueste Musik von derartiger Zahlenmystik weitgehend distanziert. Das zeigt allein schon das Werk des Berliner Newcomers Helmut Oehring, der mit dem Titel „Suck the Brain out of the Head“ seinem Stück für sechs Schlagzeuger und Zuspielband leicht eklige Assoziationsvorgaben abgibt. Oehring schreibt Musik ohne geistige Verrenkungen, außermusikalisch angereichert durch Gebärdensprache oder Rockmusikelemente, wobei er sich auch vor zeitweilig plakativer Anschaulichkeit nicht fürchtet – was ihn aus der Ernsten Musik wohltuend hervorhebt.

Neben dem Schlagzeugkonzert sind in der Veranstaltungsreihe „ex nagativo“ von Podewil und Deutschlandradio nur noch zwei weitere Konzerte zu hören. Damit verbirgt sich hinter dem vergeistigten Titel Berlins kürzeste Konzertreihe. Das Programm mit der neuesten Musik präsentiert konventionelle Formen – ein Doppelkonzert, Streichquartette –, kündigt aber auch seltsame Erscheinungen an. „Wen interessieren schon die Latschen von Reinhold Messner?“ fragt kryptisch der Komponist Wolfram Schurig angesichts seines Streichquartetts, und Andreas Stahl nennt sein Sextett „schmutzige Musik“. Ob das allerdings nur Promotion ist oder tatsächlich einen Sinn ergibt, werden wohl erst die Aufführungen zeigen.

Les Percussions de Strasbourg, heute, 17 Uhr im Podewil, Klosterstraße 68-70, Mitte

Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin: Gesprächskonzert mit Cornelius Schwehr anläßlich der Uraufführung von „a nous deux“ für Viola, Klavier und Orchester, heute, 20 Uhr im Großen Sendesaal des SFB, Masurenallee 8-14, Charlottenburg

Klangforum Wien: Werke von Isabel Mundry, Andreas Stahl, Wolfram Schurig und Markus Hechtle, Sonntag, 20 Uhr, Podewil