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Der ganz individuelle Horror

Jeder zweite Passagier hat Angst vor dem Fliegen. Die Statistik der Lufthansa ist unzweideutig: Frauen kotzen und haben Kopfschmerzen, Männer Schweißausbrüche und Atemnot  ■ Von Matthias Sobolewski

Ich habe Angst vor dem Fliegen! Nur noch Flugzeuge im Kopf. In vier Tagen muß ich mich wieder in so einen Stahlsarg setzen. Katrin will mit mir in den Urlaub fliegen, auf eine sonnige Insel vor Afrika (vier Flugstunden) – und wer will schon vor der Freundin als Angsthase dastehen?

Warum eigentlich Urlaub im Ausland? In Deutschland ist es doch auch ganz schön: gut ausgebautes Straßennetz, ICE, vielleicht eine kleine Bootstour auf dem Bodensee? Doch für Ausreden ist es schon zu spät. Die Tickets sind gebucht, die Koffer gepackt – soll ich Katrin enttäuschen?

Die Statistik der Lufthansa ist eindeutig: Frauen kotzen und haben Kopfschmerzen, Männer Schweißausbrüche und Atemnot. Ich gehöre zu den Schwitzern. Alle schauspielern: „Hallo, fliegen Sie auch in den Urlaub?“ (dumme Frage, säße sonst ja nicht im Flieger) oder: „Tolles Flugwetter heute“ (verrät den Schisser sofort). Nach meinem ersten Flug waren die Hände pechschwarz von der Druckerschwärze; für das „Streiflicht“ der Süddeutschen Zeitung hatte ich 30 Minuten gebraucht.

Das soll mir nicht noch einmal passieren. In einer Buchhandlung frage ich nach einem Ratgeber für Flugangstopfer. „Hab' ich nicht da, muß ich bestellen“, bedauert die Verkäuferin. Das Werk „Entspannt fliegen“ hätte im Jenseits- Regal stehen sollen, neben „Den Tod annehmen“ und „Ich trockne deine Tränen“. So ein Absturz soll übrigens ganz schnell gehen: ein Knall – und aus. Hauptsache, nicht langsam abschmieren, mit Geschrei und so.

Der eigenen Angst auf den Grund zu gehen, so leicht ist das nicht. Schließlich verpasse ich mir die volle Breitseite und fahre zum Flughafen. Jeder zweite Passagier hat Flugangst, gibt die Lufthansa- Statistik an. Doch die Dunkelziffer ist hoch. Vielleicht der Dicke da im gedeckten Zweireiher, der seine „Boarding Card“ lässig in der Brusttasche versenkt, mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter der (feuchten?) Achsel?

Die größten Angsthasen sind Angestellte zwischen 31 und 50 Jahren. Lufthansa-Psychologin Barbara Föse kennt die Gründe: „In der Firma sind das die Lenker und Denker, aber wenn die im Flugzeug sitzen, sich blind auf die Piloten und die Technik verlassen müssen, dann brechen alle sonst verdrängten Ängste aus.“ Mit Wochenendseminaren versucht die Fluglinie, ihren Kunden die Angst zu nehmen. Aber nicht nur aus Mitleid, sondern weil Fracksausen das Geschäft verdirbt. Der Flugzeughersteller Boeing schätzt die finanziellen Einbußen durch nicht verkaufte Tickets auf jährlich zwei Milliarden Dollar. Allein in den USA. Das entspricht neun Prozent der verkauften Tickets.

Die Angst selbst läßt sich nicht statistisch erfassen, doch auf den Aussichtsterrassen der Flughäfen ist sie allgegenwärtig. Während sich in Hamburg-Fuhlsbüttel zwei kleine Kinder darum prügeln, wer als erster im Spielzeughubschrauber „Sky Wolf“ mit roter Sirene fliegen darf, beschäftigen sich rund 60 Erwachsene mit dem Treiben auf dem Rollfeld. Sie habe so eine Art Eisblocksyndrom, gesteht die Mittvierzigerin. Wenn sie im Flieger sitze, könne sie nicht mehr aufstehen, dann verkrampfe sie völlig. Deshalb: wenn überhaupt, dann keine Flüge über vier Stunden – wegen der Toilette. Amerika und Asien könne man da getrost vergessen. Ihr Mann schaltet sich ein: Klar, das Vibrieren der Flügel kenne er auch, aber müsse man deswegen gleich kotzen? Hat der eine Ahnung!

Wie eine Horde Lemminge spazieren unter uns die Passagiere durch den weißen Plastikschlauch in ihr Verderben. Dafür sieht sie von außen ganz gut aus, die Boeing 737. Kein Rost, keine fehlenden Nieten. Aber wer weiß, ob die Techniker nicht irgend etwas vergessen haben? So ein kleines 50-Pfennig-Schläuchlein in der Treibstoffzufuhr oder ein Bölzchen am Fahrwerk – soll ja vorkommen. Diese armen, ahnungslosen Passagiere! Vor ihnen hampelt jetzt die Stewardeß mit der Rettungsweste herum. (Da geben sie es wenigstens zu, es kann doch was passieren!) Und auf geht's: RRROOOAAARRR – die Turbinen brüllen, es haut einen in die Sitze. Das ist jetzt der schlimmste Moment. Viele würden lieber zehnmal landen als einmal starten. Unbeliebter sind nur noch die Luftlöcher; dieser angsterfüllte Augenblick, wenn plötzlich das rote Schildchen aufleuchtet: „Bitte anschnallen“. Warum? Auf welches schreckliche Ereignis rasen wir da mit 800 Sachen zu?

40 bis 50 Angstauslöser gibt es auf einem Flug. Aus denen bastelt sich jeder seinen ganz individuellen Horror zusammen. Dabei ist Angst eigentlich etwas Positives. Sie sei das „Fieber der Seele“, sagt die Lufthansapsychologin und ehemalige Stewardeß Barbara Föse. Kein Mensch könne ohne die Schutzfunktion der Angst überleben. Beim Fliegen sei Angst allerdings unbegründet. Bei den meisten Hasenfüßen hake es an anderer Stelle; viele hätten eine unverarbeitete Todesangst oder einfach Streß. Flugangst sei eben die sozial anerkannteste Angst, hier könne man alles abladen, was sonst hinter der Erfolgsfassade versteckt ist.

Der Flieger ist jetzt in der Luft, verschwindet in der untergehenden Herbstsonne. Fast schön, wie das Licht auf den silbernen Tragflächen glitzert. Auf der Terrasse warten alle auf den großen Knall, doch der kommt nicht. Ein 35jähriger Radiojournalist kann sich kaum losreißen von der Start- und Landebahn, auf der gerade ein kleiner Sportflieger eintrudelt. Ihn plagt der Gedanke, daß zwischen ihm und dem minus 60 Grad kalten Nichts nur wenige Zentimeter Blech und ein paar Koffer sind. Er haßt das Fliegen, aber er muß. Wer nicht fliegt, ist beruflich erledigt. Auch der soziale Druck ist hoch, wo doch jeder Kegelklub einmal im Jahr nach Mallorca jettet. Kein Wunder also, daß rund 40 Prozent der Teilnehmer an den Angstseminaren der Lufthansa reine Urlaubsflieger sind. Mit Entspannungsübungen und technischen Details über die Sicherheit der modernen Luftfahrt soll den Angsthasen der Schrecken genommen werden. Die Kosten: fast 1.000 Mark.

Am Samstag um 11.45 Uhr geht mein Flug nach Teneriffa. „Sicherstes Verkehrsmittel der Welt, alle halbe Minute ein gelungener Start oder eine Landung, jahrelange Pilotenausbildung, Tragflächen, die sich bis zu acht Meter biegen können, doppelt und dreifach gesicherte Schaltkreise.“

Man kann sagen, was man will, so ein Flugding aus ein bißchen Stahl, Kabeln, Plastik und Glas bleibt zerbrechlich. Die Angst ist geblieben.

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