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Nummer 30 wirkt Wunder

Alles verkehrt in Spaniens Hauptstadt: Real entläßt seinen Trainer, Atlético nicht. Der Meister am Boden, der Fast-Absteiger hebt ab  ■ Aus Madrid Reiner Wandler

Madrids und damit Spaniens Fußballwelt steht Kopf. Der ewige Verlierer Atlético Madrid führt seit Monaten die Liga an – Meister Real Madrid gibt Sonntag für Sonntag seine Punkte ab. Als die „Königlichen“ nun gar noch gegen den kleinsten der hauptstädtischen Erstligisten – die Vorortkicker vom Rayo Vallecano – verloren, war die Sensation perfekt. „Einmalig in der Geschichte des spanischen Fußballs“, jubelten die Reporter. Der Vorstand von Real Madrid wollte die Begeisterung nicht teilen. Nur eine Stunde nach dem Abpfiff saß Trainer Jorge Valdano, der Mann, der den Klub nach vierjähriger Durststrecke zur Meisterschaft geführt hatte, auf der Straße.

Nach dem Titelgewinn taumelte Real von einer Krise in die nächste. Den Auftakt bildete der Rücktritt von Präsident Ramón Mendoza, der bei der Delegiertenversammlung wegen schlechter Buchführung in Ungnade fiel. Auch seinem Nachfolger Lorenzo Sanz gelang es nicht, die so notwendige Ruhe zurückzubringen. Die sportlichen Auswirkungen ließen nicht auf sich warten.

Zu viele wollten mitmischen, wenn es um die Aufstellung der Mannschaft ging. Der smarte Argentinier Valdano war dem nicht gewachsen. Trotz klangvoller Namen wie Laudrup, Suker oder Zamorano klappte es einfach nicht auf dem Fußballplatz. Nicht einmal ein UEFA-Cup-Platz ist in Reichweite, Real liegt nur auf Rang 8 der Tabelle. Erzfeind FC Barcelona, derzeit auch nicht gerade vom Erfolg verwöhnt, ist immerhin Dritter. Als würde das nicht genug schmerzen, steht an der Tabellenspitze die ewige Nummer zwei des hauptstädtischen Rasensports, Atlético Madrid.

Das Stadion Vicente Calderón bebt Heimspiel für Heimspiel. Der heimliche Star beim Atleti – wie die Fans ihren Club liebevoll nennen – ist der Herr in Anzug und Krawatte, der unten am Spielfeldrand aufgeregt hin und her läuft: Trainer Radomir Antic, 46 Jahre, Serbe. Er hat eine Mannschaft, die fast abgestiegen wäre, zum Erfolg geführt. Die leiderprobten Fans des ewigen Verlierers der letzten Jahre danken es ihm mit Jubelrufen. Von 21 Hinrundenspielen haben die Rot-Weißen 15 gewonnen und nur zweimal verloren.

Was am meisten verblüfft: die Besetzung hat kaum gewechselt. Sieben Stammspieler vom Vorjahr sind wieder mit dabei. Herzstück der Mannschaft war und ist das Duo aus Stürmer Kiko und Mittelfeldspieler Caminero. Aber in dieser Saison hat die Mannschaft das, woran es bisher fehlte. Mit Milunko Pantic, den Trainer Antic beim Athener Klub Panionios entdeckte, zum Beispiel einen weiteren Mittelfeldspieler, der sich auf genaue Pässe in die Spitze versteht. Für gerade mal 900.000 Mark wechselte er nach Madrid. Heute, nur ein halbes Jahr später, ist er unbezahlbar.

Die Verwandlung der Vorlagen ist Sache des bulgarischen Stürmers Luboslav Penev, der den gescheiterten Zauberkünstler vom Vorjahr ersetzte: Adolfo Valencia, den es zurück in seine Heimat Kolumbien zog. Eine weitere große Entdeckung ist Torwart José Francisco Molina. Bei seinem Heimatclub FC Valencia drückte er als zweiter Ersatzkeeper die Bank, in Madrid zeigt er, was er kann. Nur selten muß er hinter sich greifen. Die Verpflichtung eines absoluten Superstars, die Penev einfädeln sollte, scheiterte. Der AC Parma wollte dessen Busenfreund Hristo Stoitschkow nicht freigeben. Man kommt auch ohne ihn ganz gut zurecht. Der Tabellenführer besticht nicht durch die Häufigkeit der Angriffe. Wenn allerdings gestürmt wird, dann sitzt der Schuß meist. Und es herrscht Feststimmung auf den Rängen.

Die Mannschaft zu bändigen, war der leichtere Teil der Aufgabe, die Radomir Antic zu Saisonbeginn erwartete. Die wirklich schwierige Hürde auf dem Weg zum Erfolg hieß Jesús Gil y Gil, Präsident des Clubs. „Der wechselt die Coaches wie andere Leute die Unterhosen“, lautet einer der sarkastischen Sprüche, mit denen die Fans den Bürgermeister des Luxusbadeortes Marbella bedenken. 29 Trainer verheizte Gil in knapp acht Jahren. Antic, die Nummer 30, setzte dem zumindest vorläufig ein Ende. Seit Juni letzten Jahres hält er es aus. Ein weiteres Wunder am Manzanares.

Was den einstigen Linksaußen von Partizan Belgrad treibt? Der Wunsch nach Vergeltung. 1991 betrat er zum ersten Mal den hauptstädtischen Rasen. Damals als Trainer bei Real Madrid. In nur elf verbleibenden Spielen puschte Antic die Weißen von der Abstiegszone auf einen UEFA-Cup- Platz. Im nächsten Jahr Rekordergebnisse bei Real: 27 der ersten 30 Punkte wurden eingesackt. Präsident Ramón Mendoza war das nicht genug. Langweiligen Fußball böte seine Starbesetzung, Antic mußte gehen – und der FC Barcelona gewann die Liga.

Der Serbe kannte fortan nur ein Ziel: eine weitere Chance bei einem der großen Klubs des spanischen Fußballs. Mit dem Vertrag bei Atlético ist sie jetzt gekommen, und Antic weiß sie zu nutzen. Sechs Punkte trennen Atlético vom Tabellenzweiten Compostela, sieben vom FC Barcelona.

Doch zu früh freuen will sich keiner. Als könnte man das alles nicht glauben, zittern die Rot-Weißen und ihre Fans immer wieder dem nächsten Spiel entgegen. Geht das dann einmal verloren, wie am Sonntag in San Sebastián (0:1), kommen gleich unangenehme Erinnerungen hoch. Sechs Mal hat Atlético schon nach der Vorrunde geführt, fünfmal wurde die Meisterschaft verpaßt. Für die Fans, die schon zu oft Pechsträhnen nach einem Höhenflug erlebt haben, ist jedes Spiel eine neue Reise ins Ungewisse. Spanischer Meister? – Vielleicht geschehen ja wirklich Zeichen und Wunder.

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