■ Vorlesungskritik
: Das Sein bestimmt das Bewußtsein

Unaufhaltsam schreitet die Wissenschaft voran. Manchmal scheint es, als drehe sie sich dabei im Kreise. So steht das Genre der Biographie derzeit wieder hoch im Kurs, nachdem es als Inkarnation des Theoriedefizits schon im Orkus der Wissenschaftsgeschichte versunken schien.

Doch die Geschichte wiederholt sich nicht, geht es doch den Biographen der neuen Art nicht wie einst um Anekdotisches, sondern um die tatsächlichen Bezüge zwischen Leben und Werk, letztlich also um den marxistischen Schluß vom Sein auf das Bewußtsein. Der Historiker Friedrich Lenger zeigte etwa, wie Werner Sombart einst die Mechanismen des modernen Kapitalismus aus der Organisation seines eigenen Haushalts erklärte, und James Miller führte vor, wie Michel Foucault Theorien über Macht und Gewalt aus sadomasochistischer Praxis ableitete.

Der Philosoph Volker Gerhardt, der von der Deutschen Sporthochschule Köln nach einem kurzen Intermezzo in Halle vor drei Jahren an die Humboldt- Universität kam, hat sich für ein solches Unternehmen keinen geringeren als Immanuel Kant auserkoren. „Schon in der Lebensweise Kants treten Züge der Philosophie hervor“, sagt Volker Gerhardt und bricht mit dem gängigen Klischee vom schrulligen Philosophen, der im fernen und abgewandten Königsberg ein weltabgewandtes Leben führte. Sich als Philosoph mit Kant zu befassen ist eben nicht besonders originell. Wer es dennoch tut, muß sich schon etwas Originelles einfallen lassen.

Manche der vermeintlichen Schrullen, der geregelte Tagesablauf etwa mit nur einer Mahlzeit, erklären sich aus der „Ökonomie der Lebenskräfte“, zu der sich der kränkliche Mann von „pygmäenhafter Gestalt“ genötigt sah. Kants Wunsch, am Marasmus zu sterben, dem völligen Verfall der eigenen Kräfte, erschien Gerhardt früher kurios. „Inzwischen verstehe ich es etwas besser“, denn es sei „die natürlichste Art und Weise“ des Todes.

Die Vorstellung, mit seinen Kollegen zu verkehren, erschien Kant „greulich“. Er zog den Umgang mit den „praktischen Männern“ Königsbergs vor. Gemessen an seiner körperlichen Konstitution, urteilt Gerhardt, pflegte der Philosoph „in optimaler Weise Kontakt zu den gesellschaftlichen Kräften seiner Zeit“. In seinem politischen Engagement ging er durchaus Risiken ein, waren doch Sympathien für die Französische Revolution bei einem preußischen Professor nicht gern gesehen.

Auch die Berufungspolitik an der Königsberger Universität lag Kant am Herzen, „die politische Klärung seines Umfelds“. Darin hat auch Gerhardt in den vergangenen drei Jahren einige Erfahrungen gesammelt. Schließlich gehört er zu jener Gruppe neuberufener Humboldt-Professoren, die den Weg zur Elite-Uni beschreiten wollen und sich darin durch finanzielle Engpässe und mangelnden Erneuerungswillen behindert sehen. „Eine geradezu groteske Arbeitssituation“, hatte er voriges Jahr in einem Interview beklagt, „aber gelohnt hat sich die Mühe nicht“.

Vielleicht ist der Fortschritt der Wissenschaft tatsächlich nicht so unaufhaltsam, wie es den Anschein hat. Schon Kant hat, wie Gerhardt hervorhebt, „die tragende Rolle des Sprechens erkannt und anerkannt“. Der linguistic turn, der seit einiger Zeit in den Geisteswissenschaften als dernier cri verkauft wird, ist so neu also auch nicht. Ralph Bollmann