■ Das Portrait: Der Verweigerer
„Herr Angeklagter, Sie haben das letzte Wort.“ Der 26jährige Oliver Blaudszun aus Berlin-Marzahn saß im Verhandlungssaal 572 des Amtsgerichts Tiergarten mit hängendem Kopf. Ohne zum Richter aufzublicken, scheinbar ohne Regung, preßte er hervor, daß „ich nichts mehr zu sagen“ habe. Blaudszun wurde vorgestern wegen Fahnenflucht zu drei Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Er hat sich der Einberufung zur Bundeswehr widersetzt. Er will auch keinen Ersatzdienst leisten. Ein Totalverweigerer, wie es hierzulande dazu heißt, ein unbeugsamer Kopf. Aber ein Träumer der Gerechtigkeit. Blaudszun glaubte, daß er in der DDR für seine Verweigerungshaltung genug gebüßt hat mit 14 Monaten Knast.
Oliver Blaudszun, Flüchtling in Ost wie West Foto: privat
Allerdings war er damals nicht wegen Fahnenflucht oder seiner ablehnenden Haltung zum Militärdienst in Haft, sondern wegen versuchter Republikflucht. In der Bundesrepublik, wo man sich vor 1989 immer gerne mit den Regimekritikern „von drüben“ schmückte, will man jetzt aber den Zusammenhang nicht erkennen: daß Blaudszun die NVA ablehnte und „jeden anderen Armeedienst“, daß er die DDR, die er stets in Anführungszeichen schrieb, nicht als Staat akzeptierte und daß er sich schließlich davonmachen wollte. Schon als 14jähriger hatte er eine Demonstration von Schülern auf der Frankfurter Allee geplant und seitdem Ärger mit der Stasi gehabt. 1.300 Seiten Aktenmaterial wurden bis zum Zusammenbruch der DDR über ihn angelegt. Aber was interessiert die Vergangenheit?
Richter und Staatsanwalt guckten jetzt vornehmlich auf die Form und entdeckten, daß die Bundeswehr alles richtig gemacht hat: Die Musterung nach Augenschein reichte aus, weil Blaudszun schon in der DDR gemustert worden war. Der Einberufungsbescheid war korrekt, weil Blaudszun keinen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung gestellt hat. Also liegt Verstoß gegen Paragraph 16 des Wehrstrafgesetzes vor, weil Blaudszun anstatt bei der Truppe einen Job in Portugal als Erzieher antrat.
Oliver Blaudszun, der in der DDR das Bäckerhandwerk gelernt hat und in Zukunft am liebsten weiter im Ausland leben und arbeiten würde, sei normalerweise ein offener, fröhlicher Mensch, sagte sein Anwalt. „Aber wer ihn besucht hat, weiß, daß ihn das hier fertiggemacht hat.“ Zwei Monate hat er nämlich bis vorgestern in U-Haft sitzen müssen. „Wegen Fluchtgefahr“. Christoph Oellers
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