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Die Vergessenen von Schatila

Einst war der Libanon Hauptsitz der PLO. Hunderttausende palästinensischer Flüchtlinge bildeten einen Staat im Staat. In den Friedensabkommen mit Israel sind sie nicht erwähnt  ■ Aus Beirut Björn Blaschke und Tarek Chafik

Die Abgase des pulsierenden Beiruter Verkehrs konzentrieren sich in der staubigen Luft. Hochhäuser im Rohbau versperren den Blick auf das Meer. Inmitten dieses Chaos liegt das Kloster Sankt Elias – relativ zentral, und doch wirkt es abgeschieden. Nur selten verirren sich Libanesen hierher. Vielleicht liegt es an der hohen, grob weißgetünchten Mauer, die das Klosterareal umschließt; vielleicht liegt es aber auch an den Bewohnern der kleinen Häuser, die auf dem Gelände des Klosters eng aneinander errichtet sind. Seit 1948 leben hier einige hundert palästinensische Flüchtlinge. Wer von der Raouché aus, der Beiruter Küstenstraße, zu Sankt Elias gelangt, muß das Lager fast einmal umrunden, um den Eingang zu finden. Er liegt – versteckt zwischen der Wellblechhütte eines Autoreifenhändlers und einem stetig wachsenden Müllberg – auf der Rückseite des Klosters. Die Gassen des Lagers sind so schmal, daß Sonnenstrahlen nur die oberen Häusergeschosse erreichen. Kinder toben herum, Kleinhändler bieten auf wenigen Quadratmetern das Sortiment eines ganzen Supermarktes an. Eine alte Palästinenserin wäscht die Kleidung ihrer Familie in einer Zinkwanne. Bereitwillig erklärt sie den Weg zur Lagerleitung – dem Sitz der Norwegian Peoples Aid (NPA).

Die nichtstaatliche Hilfsorganisation leitet in Sankt Elias eine Schule, in der die Jugendlichen unter anderem in modernem Wirtschaftsmanagement ausgebildet werden. Waffa Jassir, die Koordinatorin des Projekts, hat ihr kleines Büro nahe der Klosterkirche eingerichtet. Sie ist damit beschäftigt, Fragen der Lagerbewohner zu beantworten, die durch eine Glastür den verrauchten Raum betreten. Zwischendurch telefoniert sie. Erst als sie auf die Lebensbedingungen der Palästinenser im Libanon zu sprechen kommt, schaltet Waffa ihr Handy aus. „Nach dem Ende des Golfkrieges und der Ausweisung vieler Palästinenser aus den Golfstaaten“, erklärt sie, „ist für viele der hier lebenden Familien eine wichtige Einnahmequelle verlorengegangen.“ PLO- Chef Jassir Arafat hatte während der Golfkrise auf Saddam Hussein gesetzt. Nach der Niederlage des irakischen Diktators geriet die PLO in die internationale Isolation, die sie erst mit dem Beginn des Friedensprozesses wieder durchbrechen konnte.

„Die Entwicklung seither als Friedensprozeß zu bezeichnen, ist vermessen“, fährt Waffa Jassir fort. Die PLO hoffe, daß in naher Zukunft aus den selbstverwalteten Gebieten im Westjordanland und im Gaza-Streifen ein souveräner Staat entstehen wird. Die Menschen in den libanesischen Flüchtlingslagern würden darüber schlichtweg vergessen. Zornig funkeln Waffa Jassirs Augen als sie einen schweren Vorwurf erhebt: „Inzwischen behält die PLO sogar Gelder ein, die sie bislang für die medizinische Versorgung und die Ausbildung der Vertriebenen bereitgestellt hat. Außerdem mehren sich Versuche, Finanzmittel aus internationalen Hilfsfonds, die ursprünglich für die Flüchtlinge vorgesehen waren, in die selbstverwalteten Gebiete umzuleiten.“

Immer wieder kritisiert die junge Frau den Friedensprozeß, weil er die in Israels Nachbarstaaten lebenden Palästinenser nicht miteinbeziehe. Nur so hätten Jitzhak Rabin und Jassir Arafat in Washington zu ihrem historischen Handschlag ausholen können. Erst als sich die Tür zu Waffa Jassirs Büro wieder öffnet, und ein etwa 40jähriger Mann eintritt, unterbricht sie ihren Redeschwall. Die NPA-Chefin stellt ihn als Wafiq vor. Er kenne alle Flüchtlingslager und werde gleich nach Schatila fahren – „wenn Sie wollen ...“

Schatila ist nicht weit von Sankt Elias entfernt, und doch dauert die Fahrt länger als erwartet. Je weiter die Straße in die südlichen Vororte Beiruts führt, desto enger und schlammiger wird sie. Schon nach kurzer Zeit gibt Wafiq es auf, den tiefen Pfützen auszuweichen. Nach einer scharfen Linkskurve, deutet er auf eine Querstraße, an der dicht zusammengedrängt Marktstände stehen: „Das ist die Straße, wo 1982 das Massaker begann.“

„Ich habe das Massaker nicht miterlebt“, erzählt Wafiq. Er habe damals in den USA studiert. Dann, als er in ungefähr 50 Meter Entfernung einen Militärposten entdeckt, wird er hektisch. „Packt die Kamera weg – da ist ein neuer syrischer Checkpoint.“ Die Uniformierten, zwei der insgesamt 35.000 von Syrien an den neuralgischen Punkten des Landes stationierten Soldaten, rühren sich nicht.

Erst als der Posten aus dem Rückspiegel verschwunden ist, parkt Wafiq seinen alten Benz und macht sich auf in das Zentrum des Lagers. Nach 200 Metern bleibt er vor dem Eingang eines Hauses stehen. Der Bau unterscheidet sich auf den ersten Blick nicht von den anderen Gebäuden in den verwinkelten Gassen. Früher sei dies die Moschee gewesen, erzählt Wafiq. Als Schatila eingekesselt war, sei der Boden im Erdgeschoß ausgehoben worden, um darin die Opfer zu begraben. Während im ersten Stock wieder gebetet wird, hängen heute noch Fotos von Ermordeten an der Wand – Märtyrerbilder.

Auf dem Weg in die Randgebiete des Lagers, vorbei an zerstörten Häusern, in denen heute über 5.000 Menschen leben, erklärt Wafiq, warum die Flüchtlinge im Libanon trotz des Friedensprozesses einer ungewissen Zukunft entgegensehen. In den Autonomieabkommen sei kein Wort über den weiteren Verbleib der sogenannten „48er Flüchtlinge“ und deren Nachkommen zu finden. Er meint die erste große Flüchtlingsbewegung nach der israelischen Staatsgründung. Den meisten sei die Geschichte der palästinensischen Diaspora im Libanon zu lang und wechselvoll, als daß sie sich nun stillschweigend damit abfinden könnten, „vergessen“ zu werden. Wafiq klingt ein bißchen sentimental, als er sich an die besseren Zeiten der Vertriebenen erinnert: „Die PLO war über zehn Jahre im Libanon präsent. Die Palästinenser haben sich damals frei gefühlt, und sie waren keinerlei Kontrollen durch die libanesische Polizei ausgesetzt.“

Stark seien sie auch heute noch, betont Wafiq und weist stolz auf die unzähligen Baustellen. „Alles, was in Schatila geschieht, leisten die Palästinenser selbst.“ Nach dem Bürgerkrieg wurde das Camp ohne Hilfe von außen wieder aufgebaut, und auch heute noch sind an vielen Häusern provisorische Gerüste angebracht. Über wackelige Sprossen schleppen Arbeiter mühsam Baumaterial nach oben, um auf den Flachdächern neue Stockwerke zu errichten. Der Grund sei, so Wafiq, daß der in den Lagern dringend benötigte Wohnraum mit dem gigantischen staatlichen Programm zum Wiederaufbau von Beirut kollidiere. „Wir dürfen nur noch innerhalb des Lagers bauen. Also müssen wir nach oben expandieren.“ Dann weist er auf die andere Straßenseite, wo sich ein weitläufiges Gelände erstreckt, das mit den Trümmern eingestürzter Häuser übersät ist. Das Ruinenfeld stellt die Grenze zwischen Schatila und den westlichen Vororten Beiruts dar. Dort, irgendwo zwischen den Häusern, erheben sich die Mauern und die Scheinwerfermasten des Stadions der libanesischen Hauptstadt. Um es für den internationalen Sport wieder attraktiv zu machen, sollen bis nahe an Schatila heran Hotels und Parkplätze entstehen – „Sport- City“. Die libanesische Regierung habe sogar Pläne, fährt Wafiq fort, das Lager abzureißen. Was dann mit Wafiqs kleinem Laden geschieht, der sich am Rande dieses Trümmerfeldes befindet, weiß er noch nicht. Wie er an die schmale Produktpalette kommt, will er nicht sagen. Statt dessen erzählt er, daß die libanesischen Behörden Kleinhändlern verbieten, außerhalb der Camps Handel zu treiben. Im vergangenen Jahr sei nur knapp 100 Palästinensern eine befristete Arbeitserlaubnis erteilt worden. Wer seinen Lebensunterhalt also „draußen“ verdient, arbeitet illegal – als Taxifahrer oder Hilfsarbeiter. „Die christliche Minderheit fürchtet eine Integration der Palästinenser, weil die meisten von ihnen Muslime sind“, sagt Wafiq. Zwangsläufig geriete der 1943 von den christlichen und muslimischen Eliten ausgehandelte „Nationalpakt“ ins Wanken: Auf ihm fußt das libanesische Regierungssystem, das der Bevölkerungsstärke der großen Konfessionen entsprechen sollte. Sechs zu fünf war fortan der Schlüssel, nach dem zwischen Christen und Muslimen die politischen Ämter verteilt wurden. Nur wer maronitischer Christ war, konnte Staatspräsident werden; wer sunnitischer Muslim war, brachte es höchstens bis zum Ministerpräsidenten. Die schiitischen Muslime mußten sich mit dem Amt des Parlamentspräsidenten zufriedengeben. Auch wenn die Abschaffung des politischen Konfessionalismus erklärtes Ziel der neuen Verfassung aus dem Jahre 1989 ist, setzt sich das Parlament bis dahin paritätisch aus Muslimen und Christen zusammen. „Würden unter diesen Bedingungen die 350.000 Palästinenser des Libanon integriert, vergrößerte sich der muslimische Bevölkerungsanteil um zehn Prozent“, sagt Wafiq. Als Vertriebene ohne libanesischen Paß werden den Flüchtlingen somit auch künftig Bürgerrechte wie Reisefreiheit, Wahl des eigenen Wohnsitzes und die Möglichkeit zur Gründung politischer Organisationen verweigert. „Die libanesische Regierung schert sich nicht um die palästinensischen Flüchtlinge. Ihre Vertreter betrachten das als ein Problem, für das allein die UNO zuständig ist. Und die senkt ihre Etats für die Flüchtlinge. Ich zeige ihnen mal, was das für Konsequenzen hat.“

Wieder steuert er seinen Wagen vorbei an den gelangweilt dreinschauenden syrischen Soldaten. Er wolle zu dem lange von der UNO verwalteten Gaza-Hospital fahren, das außerhalb des Camps liegt. Während der kurzen Fahrt erklärt er, daß das Krankenhaus früher über moderne medizinische Geräte verfügt habe, die aber während der sogenannten Lagerkriege von 1985 bis 1988 geraubt und zerstört worden sind.

Durch den Eingang des einstigen Vorzeigemodells palästinensischer Selbsthilfe dringt der Lärm der Straße, an der das sechsstöckige Gebäude liegt – eine Tür existiert nicht mehr. In den drei Räumen des Erdgeschosses werden heute die Bewohner Schatilas von einem Arzt und zwei Helfern versorgt. Oft, so klagt der Mediziner, könne er nur diagnostizieren. Zur Behandlung fehle es an den notwendigen Instrumenten.

Wafiq will die Stockwerke über den drei Behandlungszimmern besichtigen. Er muß vorsichtig die Treppe hochsteigen, weil die Flure dunkel sind. Das alte Hospital ist nicht an das öffentliche Versorgungssystem angeschlossen. „Wer hier Strom haben will, muß sich einen der teuren Generatoren anschaffen; wer Wasser braucht, trägt es eimerweise die Stufen hinauf“, erzählt Wafiq. Kein Wunder also, daß der Boden des Treppenhauses voller Pfützen ist, die Toiletten verstopft und die Gemeinschaftsküchen völlig verwahrlost sind. In den 137 Zimmern des Hospitals leben Flüchtlinge, für die an anderer Stelle kein Platz mehr ist, oft sieben Personen auf neun Quadratmetern; geschlafen wird in Schichten. Das seien die Folgen der ausbleibenden Gelder, so Wafiq, und so ist es kein Wunder, daß die NPA dem Gaza-Hospital vor allen anderen Hilfsgütern hauptsächlich eines liefere: Rattengift.

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