: Rückkehr ausgeschlossen
■ n Das Dorf Altenwerder gibt es schon lange nicht mehr. Der Sportverein existiert hingegen noch immer – daran konnte auch der Zwangsumzug nach Hausbruch vor fast 20 Jahren nichts ändern
Die Steine liegen direkt vor der Auffahrt. Sie erfüllen ihren Zweck, an ein Durchkommen ist nicht zu denken. „Die Leute von Strom- und Hafenbau haben sie erst aus der Elbe gebaggert und dann hier hingelegt“, erklärt Günter Facklam die Herkunft der unnatürlichen Hindernisse. „Es soll niemand mehr rauf“, sagt der Ehrenvorsitzende des FTSV Altenwerder und zeigt auf eine knüppelhart gefrorene Wiese, die fast als Buckelpiste durchgehen könnte, „das war einmal unser Sportplatz.“
Doch das ist fast zwei Jahrzehnte her, schon seit 1978 wird dort nicht mehr Fußball gespielt. Die Tore sind längst abgebaut, die Ballnetze verschwunden. Der 42 Meter hohe Wasserturm, der als Vereinssymbol das Wappen ziert, wurde schon in den 60ern abgerissen. Wo einst das Sporthaus stand – „eigenhändig gebaut, wir waren ja alles Handwerker“, so der fast 63jährige –, haben sich kleinere Bäume und Sträucher breitgemacht. Statt Anfeuerungsrufen für die Kicker des Freien Turn- und Sportvereins von 1918 sind heute Vögel zu hören. Dann und wann dringt das Tuten eines Schiffshorns auf die ehemalige Elbinsel herüber, das Rauschen der A 7 ist nur undeutlich zu vernehmen. Sonst ist es in Altenwerder sehr ruhig. In dem im 13. Jahrhundert erstmals urkundlich erwähnten Fischerdorf „Oldenwerdere“ leben und arbeiten heute auch nur noch drei Dutzend Menschen.
Freiwillig gegangen waren die anderen Bewohner nicht. Die 2 000-Seelen-Gemeinde stand den Plänen zur Hafenerweiterung im Wege, die Ende 1961 von der Hamburger Bürgerschaft fast einstimmig verabschiedet worden waren. Mehr Platz für Container-Terminals sollte her, deshalb mußte „umgesiedelt“ werden. Für viele alteingesessene Altenwerder ist es hingegen bis heute eine „Vertreibung“ geblieben – trotz Entschädigungszahlungen und Ausgleichsflächen.
Die meisten gaben am Ende schweren Herzens Haus und Hof auf. Für die dazu notwendigen Verhandlungen hatte die Stadt Hamburg am Fähranleger extra eine Bude aufgestellt, in der der Senatsbeauftragte Helmut Raloff residierte: Wer aus der „Verführer-Baracke“ kam, hatte verkauft oder stand kurz davor. 1977 wurde das Dorf, das bei der schlimmen Sturmflut von 1962 zwei Meter unter Wasser stand und dennoch keinen einzigen Toten zu beklagen hatte, bis auf wenige Gebäude dem Erdboden gleichgemacht: Bagger und Abrißbirnen leisteten ganze Arbeit. Ein Jahr später mußte auch der Sportverein weichen. „Wir haben noch in Altenwerder gespielt, als die meisten dort schon nicht mehr gewohnt haben“, erzählt Günter Facklam. Erst als Unbekannte das Sporthaus verwüstet hätten, wäre dies das Signal zum Aufbruch gewesen: „Da hat es uns einfach gereicht.“
Einfach aufzugeben ist nie nach dem Geschmack der „Oolwarder“ gewesen. Das war schon bei den Vereinsgründern so, zu denen Facklams Vater gehörte. Der Schlosser hatte mit einigen anderen jungen Leuten den Turn- und Sportverein „Frei Heil von 1918“ ins Leben gerufen, der nach dem zweiten Weltkrieg mit dem Altenwerder Turnverein 1908 zum FTSV fusionierte. Der Arbeitersportverein „Frei Heil“ wurde 1933 von den Nazis verboten, was die Mitglieder jedoch nicht davon abhielt, sich weiterhin heimlich auf dem Harburger Friedhof zu treffen.
Der Wille, sich nicht unterkriegen zu lassen, konnte zwar nicht verhindern, daß Altenwerder zerstört wurde („Das Dorf war sich nicht einig“, so Facklam). Er war aber immerhin so stark, daß der Verein nach seinem Zwangsumzug gen Hausbruch nicht auseinanderbrach. Viele hatten den FTSV schon abgeschrieben. „Das dauert nicht lange, dann seid ihr weg“, wurde geunkt, auch deshalb, weil die Hälfte der 600 Mitglieder ausgetreten war. Die Nachbarvereine TuS Finkenwerder und Harburg-Neugrabener Turnerschaft lockten mit Fusionen, doch die heimatlosen Altenwerder lehnten ab. „Wir wollten eigenständig bleiben“, blickt der damalige erste Vorsitzende Facklam zurück, „eigentlich hatten die es nur auf unsere besten Fußballer abgesehen.“
Die Beharrlichkeit zahlte sich aus. Heute hat der FTSV mit 650 Mitgliedern in drei Sparten soviele Vereinsangehörige wie noch nie in seiner wechselvollen Geschichte. Vor drei Jahren feierte man das 75jährige Jubiläum. Der städtische Sportplatz Neumoorstück ist die neue Heimat. Es ist eine moderne Anlage – funktional und gesichtslos, von anderen nur schwer zu unterscheiden. Über den Verlust von Altenwerder sei er „drüber weg“, sagt Facklam, „die Zeit läßt sich nicht zurückdrehen“.
Die Erinnerungen sind dennoch frisch, gerade bei den alten Altenwerdern, die noch immer kein Heimspiel der ersten Fußball-Herren verpassen. Auch Facklam, in dessen 25jähriger Amtszeit als Vereinsboß bei Vorstandssitzungen immer „Oolwarder Platt“ gesprochen wurde, kennt etliche Anekdoten. Wie die, als nach Kriegsende einige Zeit in Moorburg gespielt werden mußte, weil der eigene Platz umgepflügt und in ein Gemüsefeld umgewandelt worden war. Oder daß vormittags, während des Konfirmanden-Unterrichts kein Sport getrieben werden durfte, weil der Pastor das so wollte: „Wir hätten lieber Fußball gespielt.“ Doch es mußte gehorcht werden: Das Gelände hatte der Verein nur von der Kirche gepachtet.
Heute sperrt allenfalls einmal der Schuldirektor den Rasenplatz, sind die Probleme andere. Immer mehr junge Mitglieder kommen aus Neuwiedentahl, dem benachbarten Stadtteil, der als einer der schwierigsten Hamburgs gilt. Auch sportlich sah es schon einmal besser aus. An die großen Erfolge der 60er konnte der FTSV nicht wieder anknüpfen. Die erste Fußballmannschaft kickt in der Kreisliga, der vierthöchsten Klasse Hamburgs. „Wir haben gute Chancen aufzusteigen“, sagt Ingo Brussolo, Trainer und seit Mai 1995 auch erster Vorsitzender. Morgen nachmittag erwartet man den Regionalligisten Concordia zum Pokal-Achtelfinale, dem wichtigsten sportlichen Ereignis seit Jahren. Mit 300 Zuschauern wird gerechnet. Die Anfahrt sollte problemlos sein, es liegen keine Steine im Weg.
Clemens Gerlach
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