Tewje und die anderen

■ "Doss lid is geblibn." Heute beginnen die 10. Tage der jiddischen Kultur im Theater unterm Dach. Diesmal mit Lesungen, Musik und Filmen aus der Ukraine

Die Ukraine gilt als Zentrum der klassischen und modernen jiddischen Literatur. Mendele Moicher Sforim, der „Großvater der jiddischen Literatur“, von dem Jizchok Lejb Perez sagte, er war „der erste Schriftsteller, der einen jiddischen Stil schuf“, lebte hier. Ebenso Scholem Alejchem, der mit seinen Erzählungen über Kasrilewke den Schtetln um Kiew ein Denkmal setzte – und mit Tewje, dem Milchmann, einen populären Typus seiner Bewohner schuf.

Ein Zeitgenosse Scholem Alejchems war auch der populäre Liedermacher Mark Warschawsky. Erst auf Drängen Scholem Alejchems, der ihn in Kiew vortragen hörte, notierte Warschawsky seine Lieder – im Jahre 1900 erschien eine erste Sammlung. Ihre Frische und Einfachheit ließ Warschawsky zu einer Stimme seines Volkes werden. Mit David Bergelson, Der Nister (hebräisch: „Der Verschwiegene“) und anderen entstand der Kiewer Literatenkreis. Als die Verfolgung der jüdischen Schriftsteller einsetzte, waren unter den Opfern auch Bergelson, der 1952 hingerichtet wurde, und Der Nister, der 1950 im Gefängnis starb.

Jiddisches Leben und Werke der jiddischen Kultur stehen im Mittelpunkt der zehnten Tage der jiddischen Kultur, die von heute an bis zum 1. Februar im Theater unterm Dach und in der Wabe stattfinden. Thema ist dieses Jahr die Ukraine, die als bedeutendste Stätte jüdischen Lebens auf dem Gebiet der UdSSR gilt.

Die Idee einer Veranstaltungsreihe zur jiddischen Kultur hatten Lin Jaldati und Eberhard und Jalda Rebling bereits 1985. Seit 1987 findet das Festival regelmäßig um den Tag der Befreiung von Auschwitz statt – in diesem Jahr fällt die Eröffnung datumgenau auf den 27. Januar. Die Tage der jiddischen Kultur sind ein Beitrag Deutschlands zur Weltkulturdekade der Unesco.

Dieses Jahr kommen neben den Dauergästen Mark Aizikowitsch, der Gruppe Aufwind, Jalda Rebling und Karsten Troyke, die gemeinsam den Abschlußabend – ein Konzert mit Liedern von Mark Warschawsky – gestalten, die Sängerinnen Mila Poljakowska und Inna. Außerdem haben sich Michael Alpert und Alan Bern von der amerikanischen Band Brave Old World angekündigt, die gemeinsam mit Alexis Kochan und Julian Kytasty auftreten. Letzte stammen aus Winnipeg, der größten ukrainischen Stadt außerhalb der Ukraine.

Hoffnung nach der Oktoberrevolution

Bereits im 4. Jahrhundert existierten jüdische Siedlungen am Nordufer des Schwarzen und des Asowschen Meeres, im 10. Jahrhundert siedelten sich Juden in Kiew an. Oft lebten sie dort am Rande des Abgrunds: Seit dem 12. Jahrhundert waren sie immer wieder Opfer von Angriffen aus religiösen und ökonomischen Gründen. Im Verlauf der nationalen und antisemitischen Erhebung in der Ukraine zwischen 1648 und 1654 wurden 500.000 Juden ermordet. Im 18. und besonders Ende des 19. Jahrhunderts fanden weitere Pogrome statt. Immer mehr Ostjuden emigrierten.

Nach der Oktoberrevolution schien es, als würde sich nun auch das Leben der Juden verbessern: Entrechtung und Pogrome endeten, Juden erhielten die volle Staatsbürgerschaft, Jiddisch wurde als Muttersprache anerkannt und gefördert, Zeitschriften und Bücher in jiddischer Sprache kamen auf den Markt. Erstmals in ihrer Geschichte waren die Juden in Rußland gleichberechtigt, erstmals wurde Antisemitismus geahndet. Viele Juden sympathisierten deshalb mit der Revolution. Autoren wie Der Nister und Bergelson, die Rußland nach der Revolution verließen, kehrten dorthin zurück.

Nach 1917 erblühte in Kiew ein reiches jüdisches Geistesleben. 1930 entstand an der Akademie der Wissenschaften in Kiew das „Institut für proletarische jüdische Kultur“, das schon wenige Jahre später im Zusammenhang mit der um 1936 einsetzenden Verfolgung der Juden wieder geschlossen wurde. Die jüdischen Institutionen in Kiew, darunter sämtliche Archive und Bibliotheken, wurden vollständig vernichtet. Durch die neu einsetzende Judenverfolgung ging all das verloren, was die Revolution den Juden in Rußland kurzzeitig gebracht hatte.

Hoffnung für die Zukunft

Texte von Scholem Alejchem und Dem Nister werden am Montag bzw. Dienstag abend im Theater unterm Dach gelesen. Begleitet werden sie von Liedern und Musik. Am Sonntag nachmittag läuft in der Wabe der Stummfilm „Jiddische Glikn“ nach Scholem Alejchems Roman „Menachem Mendel“. Selbst lesen werden die jiddischen Erzähler Josef Burg aus Czernowitz und Herschel Poljanker aus Kiew. Ein Höhepunkt wird sicher das vom Jüdischen Studentenensemble der Theaterhochschule Kiew in jiddischer Sprache aufgeführte Stück „Chelmer Narren“ von Moische Herschenson. Die ursprünglich für 1941 in Moskau geplante Premiere wurde durch den Ausbruch des Krieges verhindert. Herschenson kam 1943 ums Leben. Erst fünfzig Jahre nach seinem Tod wurde das Stück in Kiew uraufgeführt.

1989 lebten in der Ukraine etwa eine halbe Million Juden. Obwohl ihre Zahl durch die Emigration ständig zurückgeht, gibt es heute wieder jüdische Verlage, Zeitschriften, Kulturzentren, Akademien, ein reges religiöses Geistesleben, jiddische Theater und Künstler. Thomas Schmid

Eröffnung heute, 20 Uhr, jiddische Lieder aus der Ukraine. Morgen, 15 Uhr: Stummfilm „Jiddische Glikn“, ab 17 Uhr: Lesungen

Montag, 17 Uhr: „Tewje“, Film nach Scholem Alejchem; 19 Uhr: Programm mit Texten von Scholem Alejchem; 21 Uhr: Theaterstück „Chelmer Narren“

Dienstag, 19 Uhr: Lesung mit Texten von Der Nister

Donnerstag, 21 Uhr: Mark-Warschawsky-Abend

alles: Wabe, Danziger Straße 101, Prenzlauer Berg. Weitere Programmhinweise und Informationen unter 42401080