: Ein ganzes Dorf hält dicht
■ Chronik des organisierten Brandanschlags in Dolgenbrodt
Berlin (taz) – Tote waren keine zu beklagen, nur ein abgebranntes Haus. In ihm hätten 85 asylsuchende Menschen ein halbes Jahr Aufnahme finden sollen. In der Nacht vor ihrem Einzug brannte das Gebäude ab. Brandstiftung. Die Täter entkamen, unerkannt. Die Reste des abgefackelten Hauses kokelten noch, als sich die Dorfbewohner an jenem 1. November 1992 in der Dorfkneipe zum Umtrunk zusammenfanden. Die Dolgenbrodter hatten etwas zu feiern: Kein Ausländer würde die Dorfruhe stören, 40 Kilometer südöstlich von Berlin. Seither stehen die 260 Einwohner unter Verdacht, den Brand bestellt und bezahlt zu haben.
Doch keiner will es gewesen sein. Es steht fest, daß die Mehrheit der Dolgenbrodter den Brandanschlag wollte. In einer Dorfversammlung eine Woche zuvor hatten sie beraten, was gegen die angekündigten Fremden zu tun sei. Dabei fiel der Satz: „Am besten, das Haus würde abbrennen...“ Die meisten klatschten, niemand widersprach. Die Lunte war gelegt. Wer entzündete sie?
Die Beamten des Staatsschutzes stellten die Ermittlungen ein, obwohl sie das Gerücht kannten, daß die Dörfler Geld für den Brandstifter gesammelt haben sollten. Die taz recherchierte. 2.000 Mark sollen die Dörfler als Honorar für den Brand gezahlt haben.
Ein einschlägig bekannter Rechtsradikaler, Silvio J., Mitglied der verbotenen „Nationalen Front“ brüstete sich in Skinheadkneipen mit der Tat. In der Brandnacht war sein weißer Golf GTI vor dem Asylheim gesehen worden. Diese Indizien konnte auch der Staatsanwalt nicht übersehen. Silvio J. wurde verhaftet, bestritt die Tat, saß elf Monate in Untersuchungshaft, makierte unter rechten Genossen den coolen Nazi und kam frei. Das Jugendgericht Potsdam befand, die Beweislage gegen ihn reiche nicht aus. Dabei war nicht einmal ein Brandgutachten erstellt worden.
Der Bundesgerichtshof befand, das Gericht habe die belastenden Beweise der Anklage „ungenügend berücksichtigt“. Seit vergangenen September wurde vor dem Landgericht Frankfurt (Oder) neuverhandelt, 23 Prozeßtage lang wurden Bewohner und ehemalige Freunde Silvios in den Zeugenstand gerufen. Die meisten Dörfler erinnern sich nur daran, daß sie sich an nichts erinnern können. Nur die alten rechten Freunde belasten Silvio J. vor Gericht. „Aber die sind mir schnuppe“, kommentierte der Angeklagte nach einem Prozeßtag. Annette Rogalla
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