Im Holzboot über die Meerenge von Gibraltar

■ Ein junger Marokkaner berichtet von seiner abenteuerlichen Überfahrt nach Spanien

Nachdem ich mich drei Tage in Tetuáns Teehäusern herumgedrückt hatte, begann ich zu zweifeln. „Hier kommst du nie weg“, dachte ich immer wieder. Stundenlang irrte ich durch das Zentrum der Stadt. Ich war 25 Jahre alt. Weder in meinem Dorf, noch in Rabbat oder Fez hatte ich einen Job gefunden. Ohne Beziehungen war einfach nichts zu machen, und das, obwohl ich eine gute Ausbildung habe: Ich bin Physiker, spreche fließend englisch und ziemlich gut deutsch. Deshalb wollte ich nur noch eins: nach Spanien und von dort aus nach Frankreich.

Doch wo ich auch fragte, boten sie mir nur Waffen oder Drogen an. Endlich war es dann soweit. Eine zwielichtige Gestalt versprach mir eine Reise auf einem Fährschiff von Tanger an die spanische Südküste. Umgerechnet 5.500 Mark wollte er dafür. Er müsse eine ganze Reihe von Beamten auf beiden Seiten der Grenze schmieren, so die Rechtfertigung. Ich hatte einfach nicht soviel. Geknickt zog ich ab.

Am nächsten Tag traf ich ihn wieder. Es gebe noch eine billigere Lösung, erklärte er mir: ein kleines, sechs Meter langes Holzboot mit Außenbordmotor. Mit 2.500 Mark wäre ich dabei. In einer Nußschale über die Meerenge von Gibraltar? In mir kamen die Bilder von Ertrunkenen hoch. Nein, so wollte ich nicht enden. Die ganze Nacht machte ich kein Auge zu. Wenn ich jetzt nein sagte, würde ich dann jemals von hier wegkommen? Am nächsten Morgen riß ich all meinen Mut zusammen, suchte den Typ und sagte zu. Er stellte mich einem zweiten Mittelsmann vor und der nach längerem Gespräch einem dritten. Schließlich sprach ich mit einem vierten, der der Chef zu sein schien. Die Hälfte des Preises zahlte ich sofort, darüber hinaus eine zehnprozentige Kaution für die Mittelsmänner. In einer Woche sollte ich wiederkommen. Er würde derweil die übrigen 19 Weggefährten zusammensuchen, und dann ginge es los.

So war es dann auch. „Morgen nacht in Oued Lau, einem kleinen Fischerdorf zwischen Tetuán und Melilla“, wurde mir mitgeteilt. Als ich dort um neun Uhr abends ankam, war ich der erste. Etwa um Mitternacht füllte sich der Strand mit den restlichen Passagieren, einige davon Schwarzafrikaner. Wir waren alle nervös. Vor uns lag die Meeresenge von Gibraltar, von deren gefährlichen Strömungen wir schon viel gehört hatten.

Aber der Himmel war klar, wenn auch ohne Mond, das Wasser ruhig. Gegen ein Uhr rissen uns drei Männer aus den Grübeleien. Während uns einer aufforderte, unsere Ausweispapiere wegzuwerfen, und den Rest des Geldes einsammelte, tauchten plötzlich zwei Grenzsoldaten auf. „Das war's. Die nehmen uns alle fest, und aus der Überfahrt wird nichts“, dachte ich entsetzt. Doch zu meinem Erstaunen verhandelten sie mit einem der dreien und gingen wieder. „Die sind nur gekommen, um ihren Teil zu kassieren“, erklärte uns einer der Mitreisenden.

Plötzlich erklang das Geräusch eines Außenbordmotors. Wir stiegen ein. Drei Stunden ruhiger Überfahrt, mit einer Pause von 30 Minuten mitten auf dem Meer, um abzuwarten, bis das Patrouillenboot der Spanier vorbei war. Hundert Meter vom Ufer entfernt hieß es dann plötzlich: „Raus!“ Ohne weiter nachzudenken, sprangen wir alle ins Wasser und schwammen ans Ufer. Dort lief jeder in eine andere Richtung.

Bis heute weiß ich nicht, was aus den anderen geworden ist, ja nicht einmal, wie sie hießen und von wo sie kamen. Ich irrte eine halbe Stunde durch die Dunkelheit und setzte mich in einer kleinen Senke nieder. Dort zog ich mir die trockenen Kleider, die ich in einer Plastiktüte mitgebracht hatte, an, steckte mein letztes Geld in die Hosentasche und schlief ein. Als ich aufwachte, sah ich eine Landschaft vor mir, ganz wie zu Hause – mit einem entscheidenden Unterschied: Überall standen riesige Gewächshäuser aus Plastikfolie herum. Es gab keinen Zweifel: Ich war in Spanien. Notiert von Reiner Wandler