: Rußlands Kumpel streiken
Schon seit Monaten bekommen die Bergleute keinen Lohn. Moskau will gezahlt haben, doch das Geld kommt in den Gruben nicht an ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath
Rußlands Bergleute haben genug. Gestern traten nach Angaben der Gewerkschaften eine halbe Million Kumpels in 104 Zechen und 25 Tagebaugruben in den Streik. Der staatliche Kohlemonopolist „Rosugol“ sprach indes von 300.000 Streikenden. Auch in der Ukraine begannen die Bergarbeiter in rund der Hälfte der 250 Zechen einen Streik.
Die russischen Grubenarbeiter drohten seit längerem mit einem Ausstand, nachdem die föderalen Behörden ihnen monatelang die Löhne nicht ausgezahlt hatten. Noch am Vorabend des landesweiten Streiks meldete Präsident Jelzins Wirtschaftsreferent, Alexander Liwschitz, die vom Vorjahr ausstehenden 600 Milliarden Rubel seien noch am selben Tag in die Regionen überwiesen worden.
Keine Löhne zu erhalten, ist für die Bergarbeiter nichts Neues. Denn seit mehreren Jahren müssen sie neben der Kohle auch noch ihre Bezüge zutage fördern. Noch zu Zeiten der Sowjetunion standen die Kumpel in der vordersten Linie der Streikfront. Schon damals ging es um Löhne und die katatstrophalen Arbeistbedingungen in den Gruben, die sich bis heute nicht gebessert haben. Die meisten der Zechen sind unproduktiv, besonders in den Regionen des hohen Nordens. Die Förderung aufrechtzuerhalten und ein einigermaßen vertretbares Lebensniveau in den klimatisch unwirtlichen Gegenden zu gewährleisten, erfordert mehr Mittel, als erwirtschaftet werden.
„Wir haben das Geld“, zürnte Boris Jelzin, „es liegt nur an der Desorganisation, wenn die Menschen nicht rechtzeitig bezahlt werden.“ Der Präsident indes nutzt die soziale Unruhe für seinen Wahlkampfauftakt. Er kündigte die Gründung eines Extrafonds an, der Lohnverzögerungen auffangen soll. Zuvor hatte er Rentnern und Studenten die Zuwendungen aufgestockt. Woher diese Mittel stammen, verriet er nicht. Wer an der Misere die Hauptschuld trägt, ist unklar. Wahrscheinlich erst einmal das Finanzministerium, dessen Hauptziel der Geldwertstabilität galt. Die Inflationsrate sollte möglichst niedrig gehalten werden.
Mit den Bergarbeitern traten auch die Lehrer an 4.000 Schulen in den Streik. Zwei Drittel der 89 Verwaltungsgebiete Rußlands sind davon betroffen. Moskau streikt nicht. „Keiner beklagt sich bei uns. Alles hängt von den regionalen Regierungen ab“, kommentierte ein Sprecher des Erziehungsministeriums. Demnach seien die Gelder längst beim Adressaten. Das bestätigte indirekt auch eine Sprecherin der Lehrergewerkschaft. Trotzdem hätten sie keinen Rubel gesehen. „Wir wollen eigentlich nicht weiter streiken“, sagt die Gewerkschafterin, „aber erst, wenn wir auf die Straße gehen, finden die lokalen Verwaltungschefs plötzlich das Geld.“ Die Erklärung: Bevor die Administratoren die Löhne weiterleiten, verdienen sie sich eine goldenen Nase, indem sie die Gelder zinsbringend anlegen. Das gleiche trifft auch im Bergbau zu. Da mischt sich noch eine Instanz dazwischen, die auch nicht leer ausgehen möchte: Der Direktor oder das Direktorenkonsortium. Und wovon leben die Menschen, wenn sie keinen Lohn bekommen? Über die Hälfte der Städter besitzt eine Datscha und ein Stück Land, das ihn mit dem Nötigsten selbst versorgt. Außerdem arbeitet fast jeder zweite noch in einem anderen Beruf, der häufig mehr abwirft als sein Erstjob.
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