Klage eines armen Schluckers

Endstation Bundesgerichtshof: Die juristische Odyssee des vom DDR-Sportsystem geschädigten Gewichthebers Roland Schmidt  ■ Aus Dresden Peter Unfried

„Gehen Sie mal runter“, empfahl sein Anwalt dem Kläger, „da unten sind noch Kameras. Gucken Sie nett rein!“ Die Verhandlung war zu Ende: Und Roland Schmidt (34) tat wie geheißen. Bloß: Nett gucken liegt ihm grundsätzlich nicht. Und schon gar nicht war ihm danach an diesem Nachmittag. Noch hat der 4. Zivilsenat des Dresdner Landgerichts die Klage des einstigen DDR-Gewichthebers auf Schadenersatz wegen an ihm verübten Hormondopings nicht abgewiesen. Daß er es zu tun gedenkt, hat Gisela Boie, die Vorsitzende Richterin, aber ziemlich deutlich zu erkennen gegeben. Offenbar ist das Gericht jedoch bereit, Schmidt den Weg zum Bundesgerichtshof freizugeben.

Roland Schmidt hat ein Problem: „Mir geht es um mein Recht“, sagt er. Daß ihm Unrecht geschehen ist, steht moralisch gesehen außer Zweifel. Nur hat sich auch in der Berufungsverhandlung keine Rechtsgrundlage aufgetan, jenes Unrecht zu kompensieren. Dem Gewichtheber war 1978 als 17- und also Minderjährigem das Anabolikum Oral- Turinabol (made in Jena) verpaßt worden. 1983, da war der Athlet wegen mangelnder Perspektiven ein erledigter Fall, mußte ihm operativ eine nichtmuskuläre Zunahme des Brustgewebes entfernt werden. Gynäkomastopathie ist der Fachbegriff für dieses Vorkrebsstadium, populärer ausgedrückt: Verweiblichung der Brüste.

Daß der direkt verantwortliche Sektionsarzt Theodor Härtel und der Verbandsarzt Hans-Henning Lathan dafür nicht zu belangen sein werden, hat Schmidts Anwalt Michael Lehner inzwischen eingeräumt. Wovon alle ausgehen, ist, daß Doping in der DDR staatlich gefördert und durch die Stasi überwacht wurde, auch wenn es selbstredend nicht durch Paragraphen geregelt war. Die Ärzte sind nicht nach dem DDR-Zivilgesetzbuch zu belangen und auch durch das DDR-Staatshaftungsgesetz geschützt: Als Angehörige des Sportmedizinischen Dienstes der DDR, sagte die Richterin Boie, bewegten sie sich mit der Verabreichung von Hormondoping „innerhalb der Struktur“. Somit haftet? Der „Betrieb“: die DDR.

Bleibt also jene Frage, die den Fall zu einem Präzedenzfall zu machen drohte und immer noch könnte: Was geht das alles die Bundesrepublik Deutschland an? Die Sachlage ist kompliziert. Der Heidelberger Michael Lehner, Spezialist für Doping-Prozesse, hat erneut versucht, mit einer „Paragraphen-Gratwanderung“ eine Haftung der Bundesrepublik nachzuweisen, kann aber diese nicht als Rechtsnachfolger der DDR etablieren. Auch, was näher läge, von einer „Funktionsnachfolge“ des bundesrepublikanischen Sports Ansprüche abzuleiten, wird wegen Ungleichheit der Strukturen nicht durchzusetzen sein. Der Staat pocht darauf, qua Einigungsvertrag den organisierten DDR-Sport den west- und damit gesamtdeutschen Sportverbänden eigenverantwortlich übergeben zu haben. Es gilt treudeutsch: Der DDR- Sport ist tot. Erbverpflichtungen bestehen nicht.

Der Sport ist höchstens moralisch zu belangen. Ist er? Die Goldmedaillen aus dem Osten hat man gern geschluckt, auf einen Entschädigungsfonds für Doping-Opfer angesprochen, hat das NOK aber längst wissen lassen, es gebe „weitaus wichtigere Maßnahmen“.

Wenn der Bademeister Roland Schmidt seinem Beruf nachgeht, erzählt er, werde er „schon öfter nach den Narben gefragt“. Je fünf Zentimeter groß, links und rechts, seine Brust erinnert ihn täglich an die Vergangenheit. Eine „gewisse Belastung“, sagt er, sei das schon. Der eher schmächtige Mann mit dem Schnauzer ist keiner, der sich in den Vordergrund drängt. Nun derjenige zu sein, der seine Narben herzeigt, fällt nicht leicht. Auch andere sind in der Robert-Rössle- Klinik, Berlin, wegen derselben Sache operiert worden. Einige, deutet Anwalt Lehner an, warten nur darauf, wie die Sache ausgeht.

Aber Schmidt muß sich hinstellen, die Hände stramm auf dem Rücken verschränkt, und immer wieder seine Geschichte erzählen. Wie er, dem sein Sport „alles“ war, mit 14 in die Hände des Mediziners Härtel geriet. Das war ein Mann, zu dem der Jugendliche, da er ihn „lange Jahre kannte, vollstes Vertrauen hatte“, als es schließlich ans Verteilen der Kuverts ging. Wöchentlich bekam Schmidt diesen „neutralen Umschlag“, drin allein das zweckentfremdete Medikament. Keine Packung, kein Zettel, nichts.

Jetzt steht er da, im eiskalten Wind vor dem sächsischen Landgericht, und kann – die komplexe juristische Sachlage hin oder her – einfach „nicht verstehen, warum ein DDR-Sportler gedopt werden konnte und man die nicht zur Verantwortung ziehen kann“. Die Schadenersatzforderung beläuft sich gerade mal auf 15.000 Mark. Aber da sind die Ärzte, die später nie ein erklärendes Wort zu ihm gesprochen haben. Da sind die bundesdeutschen Sportverbände, von denen ihm „nicht bekannt“ ist, daß irgend jemand auch nur mit einem Satz zu erkennen gegeben hätte, daß es Roland Schmidt gibt.

Die Sache finanzieren kann er nur mit Hilfe des Fonds, den diejenigen für Doping-Opfer eingerichtet haben, die offenbar in diesem Land ganz allein für Doping-Aufklärung zuständig sein müssen: das Heidelberger Ehepaar Brigitte Berendonk („Doping-Dokumente“) und Werner Franke. Seinen Prozeß gewinnen, so scheint es, kann Schmidt nicht. Doch wenn am 29. Februar bei der Urteilsverkündung eine Revision beim Bundesgerichtshof, wie erwartet, zugelassen wird, dann geht er nach Karlsruhe. „Es ist auf jeden Fall von Vorteil, wenn das alles jemand mitkriegt“, sagt Roland Schmidt. Kamera auf einen armen Schlucker: Nett gucken wird er nicht.