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■ Arbeitsminister Blüm gesteht: Der Rentenkasse droht ein 10-Milliarden-Loch. Opposition und Regierung werfen sich gegenseitig Panikmache und Vertuschung vor

Bonn (taz) – Die Rentenkasse hat ein Loch. Erstmals hat Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU) gestern öffentlich zugegeben, daß der Beitragssatz für die Rentenversicherung 1997 um 0,6 auf 19,8 Prozent zu steigen droht. Ein Defizit von 9,9 Milliarden Mark ist absehbar. Die bedrohliche Nachricht schien gestern fast unterzugehen im Schlagabtausch zwischen Koalition und SPD, bei dem es allen Rentnern angst und bange werden mußte.

Die Regierung betreibe eine schleichende Ausplünderung der Rentenkassen, kritisierte SPD-Sozialexperte Rudolf Dreßler. Norbert Blüm warf den Sozialdemokraten vor, aus „blindem Wahlkampfeifer“ eine „Angstkampagne“ loszutreten.

Wahlkampfstimmung herrschte wohl auf beiden Seiten. So mußte sich Blüm von der bündnisgrünen Abgeordneten Andrea Fischer sagen lassen, daß er selbst es war, der schon am 20. Januar die Diskussion über die Misere der Rentenkasse begonnen habe, um seine Reformpläne zur Frühverrentung besser verkaufen zu können. Doch nicht nur Blüm, auch sein Kontrahent Rudolf Dreßler (SPD) bekam von Fischer ordentlich Zunder: „So darf man nicht auf den Nerven der Leute herumtrampeln“, rief sie ihm zu. Während die einen „Beruhigungspillen“ verteilten, würden die anderen die Rentner in Panik reden. Der Streit sei eine „Inszenierung“. Auch wenn die Rentenfinanzen in „arger Bedrängnis“ seien, lägen schließlich erst in vier Wochen verläßliche Zahlen vor.

Norbert Blüm hatte zu diesem Zeitpunkt schon verkündet, daß er das drohende Defizit von fast 10 Milliarden Mark abwenden wolle. Sein Rezept: „Sparen, sparen, sparen.“ Blüm will mit dem Stopp der Frühverrentung das tatsächliche Rentenalter erhöhen. Zur Zeit liege es drei Jahre unter der gesetzlich vorgeschriebenen Grenze. Wenn Erwerbstätige durchschnittlich nur ein Jahr später in Rente gingen, könnten damit 27 Milliarden Mark gewonnen werden. Die Frühverrentung – früher eine Ausnahme – sei heute die übliche Personalpolitik der Großbetriebe. 1991 habe es nur 54.000, 1995 aber schon 300.000 Frührentner gegeben. Die kosteten die Rentenversicherung 38 Milliarden Mark. Weiteres Geld will der Minister bei Kuren und mit einer Reform der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten sparen.

Die SPD warf der Bundesregierung vor, die Rentenkasse mit versicherungsfremden Leistungen zu überfordern und mit einer falschen Beschäftigungspolitik zu belasten. „Die Regierung hat die Rentenversicherung als Reservekasse für ihre bankrotte Haushaltspolitik mißbraucht“, schimpfte Dreßler. Niemand könne sicher sein, ob die Renten nicht schon im Herbst auf Pump ausgezahlt werden müßten. Die von Blüm genannten Einsparungen durch eine Reform der Frühverrentung würden erst mittelfristig greifen, warnte Dreßler. Selbst wenn der Beitragssatz im Januar 1997 auf 19,9 Prozent steige, müsse die Rentenversicherung Ende 1997 noch mit einem Minus von 5,2 Milliarden Mark rechnen. Blüm verheimliche den Ernst der Lage.

Unterdessen hat das Bundesarbeitsministerium Berichte dementiert, wonach eine schrittweise Verlängerung der Lebensarbeitszeit für Männer und Frauen schon ab 1997 in Kraft treten soll. Man halte aber daran fest, vom Jahr 2000 an das Rentenalter sukzessive auf 65 Jahre zu erhöhen. Karin Nink Kommentar Seite 10