: Sandino vom Mythos befreit
Die erste überzeugende und dann noch von einem Deutschen geschriebene Sandino-Biographie holt Nicaraguas Nationalhelden vom Podest – und verleiht ihm neue Aktualität ■ Von Bert Hoffmann
Die Enkel fochten's besser aus. Augusto César Sandino war bereits seit 45 Jahren tot, als die Revolution in seinem Namen siegte. 1979 eroberten die Sandinisten die Macht in Nicaragua, und mit ihnen kam auch die Erinnerung an jenen Rebellen zurück, dessen erklärte Erben sie waren.
Jener Sandino, der ein halbes Jahrhundert zuvor gegen die Übermacht der US-amerikanischen Besatzungstruppen gekämpft hatte, bis sie schließlich abzogen. Und der, nachdem er dann Frieden mit der Regierung schloß, kaltblütig erschossen wurde, ermordet im Auftrag Anastasio Somozas, der mit eben diesem Mord die Herrschaft einer Familiendynastie begründete, die fast fünf Jahrzehnte lang zu den brutalsten Diktaturen Lateinamerikas gehörte. Jener Sandino, dem endlich Gerechtigkeit widerfuhr, als die sandinistische Revolution die Somoza-Diktatur stürzte.
So wäre vor zehn, fünfzehn Jahren ein Buch mit dem Titel „Sandino. Eine politische Biographie“ ein sicherer Bestseller gewesen. Die Sandinisten hatten sich ein reibungsloses Bild ihres Namensgebers und Nationalhelden geschaffen, und das mit beeindruckendem Erfolg. Sandino wurde zum nationalen Mythos Nicaraguas, dessen Faszination weit über die Grenzen des kleinen Landes hinaus wirkte.
Dabei war dieses Sandino-Bild jedoch immer eine Konstruktion mit primär politischer Funktion: als Mittel der Mobilisierung gegen die Somoza-Diktatur und nach der Revolution als Absicherung der Partei- und Regierungspolitik, die in Sandinos Namen gemacht wurde. So ist es kein Wunder, daß erst jetzt, fünf Jahre nach der Wahlniederlage der Sandinisten, ein Werk wie das des Hannoveraner Historikers Volker Wünderich vorliegt, dem es just um das Gegenteil geht: Sandino von den nachträglichen Projektionen zu befreien; „die historische Person aus ihrem Mythos wieder herauszuschälen“, wie Wünderich in der Einleitung schreibt. Dies gelingt ihm, um das Fazit vorwegzunehmen, auf beeindruckende Weise.
In jahrelanger Forschungsarbeit hat Wünderich umfangreiches Archivmaterial in den USA, England, Venezuela und Deutschland erstmals systematisch ausgewertet, aber auch Dokumente und Quellen in Nicaragua selbst, die erst nach der Wahlniederlage der Sandinisten 1990 zugänglich wurden. Das Ergebnis ist die erste umfassende historisch-kritische Studie zu Leben und Werk Sandinos – die zudem ausgesprochen klar geschrieben und auch für Nichtexperten sehr gut lesbar ist. Die gleichzeitig auch in Nicaragua erscheinende Biographie beweist ihre Souveränität auch bei einem Thema, das bisher in aller Regel glattgebügelt oder ganz verdrängt wurde: Sandinos teilweise haarsträubende esoterische Neigungen. Wünderich widmet ihnen ein eigenes Kapitel. Dabei analysiert er Sandinos Spiritismus, ohne je denunziatorisch zu werden, sondern um zu verstehen, wie er zu einem derart charismatischen Rebellenführer werden konnte. Aber auch, weshalb Sandino nach dem Friedensschluß nicht nur politisch machtlos, sondern letztlich auch schlicht ratlos war.
Sandinos „politische Biographie“, das sind im Grunde nur acht Jahre: 1926 war er noch einfacher Wanderarbeiter in Mexiko, 1934 war er bereits ermordet. In diesen acht Jahren allerdings vollzieht sich (nicht nur) in Nicaragua ein Epochenbruch, und Wünderich versteht es immer wieder, in seiner Biographie Sandinos diesen entscheidenden politischen Umbruch zu analysieren: Das Ende des traditionellen politischen Systems des 19. Jahrhunderts, dem eine Modernisierung aus eigener Kraft nicht gelingt, und der folgende Sturz des Landes in die Diktatur. Und gerade indem Wünderich den Menschen Augusto Sandino vom Denkmal trennt und ihn in sein eigenes historisches Recht setzt, gewinnt dieser wieder neue Aktualität.
Der Konflikt um Sandino ist eben auch ein aufschlußreiches Beispiel dafür, wie eine militärische Intervention des Nordens, die sich Demokratie und freie Wahlen auf die Fahnen geschrieben hat, am Ende das genaue Gegenteil zur Folge hat: ein halbes Jahrhundert offener Militärdiktatur. Denn während ihrer Besetzung hatten die USA das Land gründlich verändert: Sie hatten die alten Parteiarmeen der Liberalen und Konservativen abgeschafft und an ihre Stelle die parteiunabhängige Nationalgarde aufgebaut. Dies war im Sinne einer politischen Modernisierung des Landes durchaus plausibel. Doch die neugeschaffene Nationalgarde unter Führung Somozas war nun die Macht im Lande, dem keine „checks and balances“ mehr entgegenstanden. Hier nämlich versagte die Modernisierung made in USA, und dies weniger zufällig als vielmehr zwangsläufig.
Wünderich weist dabei gleichwohl alle Verschwörungstheorien zurück, die USA hätten Somoza den Auftrag zum Mord an Sandino gegeben. Sie brauchten es gar nicht. Die Nationalgarde war, wie das Buch anschaulich darstellt, ihrer Konstruktion nach eine strukturelle Zeitbombe.
Und als sie hochging, nämlich als Somoza Sandino ermorden ließ und offen die Macht an sich riß, verwiesen die USA schlicht auf ihre neue Politik der „Nichteinmischung“. Demokratie und freie Wahlen waren nun zweitrangig. Oder, wie es US-Präsident Roosevelt formulierte: „Somoza mag ein Hurensohn sein, aber er ist unser Hurensohn.“
Volker Wünderich: „Sandino. Eine politische Biographie“. Peter Hammer Verlag Wuppertal 1995, 343 Seiten mit vielen hist. Illustrationen, 36 DM
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