: Arktis im Zeitraffer
■ Die Bremerhavener Polarforscher vom Alfred-Wegener-Institut nutzen das Hafeneis als Ersatz für Sibirien.
Weser und Wattenmeer tun in diesem Winter so, als seien sie die sibirische Arktis. Der Dauerfrost ist für die Polarforscher des Bremerhavener Alfred-Wegener-Instituts (AWI) ein Glücksfall. Das erste Mal seit vielen Jahren können sie Erkenntnisse über die Eigenschaften von Meereis vor ihrer Haustür gewinnen. Im zugefrorenen Becken des Yachthafens haben die Wissenschaftler eine etwa drei mal drei Meter große Fläche mit grünen Pulvern unterschiedlicher Korngröße bestreut, die nun ins Eis eingeschlossen werden.
„Seit Nansen haben die Polarforscher gefragt: Wie kommt der Dreck ins Eis“, erklärt Hajo Eicken, der am AWI die Arbeitsgruppe der Meereisforscher leitet. Diese Frage hätten Nordamerikaner seit Nansens Zeiten allerdings gut erforscht. Die AWI-Wissenschaftler wollten hingegen wissen, wie sich die Sedimente im Eis bewegen, wie sie transportiert werden und wieder heraus gelangen.
Natürlich geht es nicht um das Eis in der Unterweser. Das eigentliche Forschungsgebiet liegt tausende Kilometer wieder nordöstlich, in den arktischen Randmeeren Sibiriens. Hier schwemmen die großen sibirischen Ströme Ob, Lena und Jenissei gewaltige Mengen Sedimente, also Erde und allerhand Dreck, ins Meer.
Praktisch für die Wissenschaftler: Auch die Weser führt viele Sedimente mit sich, die sich im Mündungsgebiet ablagern. Darum sei das Wattenmeer an der Nordsee auch mit den flachen sibirischen Meeren vergleichbar, sagt Eicken. Auch der Salzgehalt im Hafenbecken sei mit elf Promille fast identisch. Das Versuchsfeld im Hafeneis gleiche darum den Bedingungen in der Laptev-See, wo die AWI-Forscher im letzten Jahr drei Meßfelder angelegt und mit Bojen und Peilsendern markiert haben.
Die von den Flüssen bis aus Südsibirien und der Baikalsee-Region herangespülten Sedimente werden im arktischen Meer ins Eis eingeschlossen und driften innerhalb von drei Jahren über den Nordpol bis in die Grönlandsee. Umwelttechnisch sei es darum gut zu wissen, wie eventuell Schadstoffe oder nuklear verseuchte Teilchen bis in diese für Europa wichtigen Fischgründe gelangen könnten, erläutert Eicken den Sinn des Projekts. Außerdem schmilze Eis sehr viel schneller, wenn sich an seiner Oberfläche Dreck abgelagert hat. Wegen der gewaltigen Menge sibirischer Erde im Eis könnte das sogar das globale Klima beeinträchtigen. Allerdings sei man hier noch bei der Grundlagenforschung.
„Wir versuchen, mit den im Hafen gesammelten Daten Abschmelzprozesse im Modell nachzuvollziehen“, erklärt der Physiker Johannes Freitag. Dazu zieht er Bohrkerne mit zehn Zentimeter Durchmesser aus dem Hafeneis. Im Kältelabor bei Minus 20 Grad werden daraus dann schmale Scheibchen geschnitten, die unter einem Speziallicht betrachtet werden können. Interesant ist nun, wie die eingebrachten Stoffe durch das poröse Meereis wandern.
Denn Salzwasser läßt laut Freitag anders als ein Eiswürfel im Cocktailglas viele Kanäle und Fugen offen. Auch schmilze Meereis im Gegensatz zu Süßwassereis aus der Mitte heraus, so daß der Dreck im Eis bei steigenden Temperaturen zunehmend in Bewegung gerate.
Noch hängen in den ersten Probenscheibchen die phosphoriszierenden grünen Pünktchen unter einer obersten Schicht körniger Eiskristalle, wie sie beim Einfrieren bewegten Wassers entstehen. Gespannt warten die Wissenschaftler darauf, wie sich ihr Pulver den Weg durch eine folgende Schicht langgestreckter Kristallsäulen bahnen und wie es schließlich aus dem Eis entlassen wird.
Richtig ernst wird es im Yachthafen also erst, wenn der Frost zu Ende ist. „Sobald es wärmer wird oder anfängt zu regnen, müssen wir sofort raus und ständig Proben ziehen“, sagt Freitag. „Wir können hier den Schmelzvorgang, der sich in Sibirien über mehrere Monate hinzieht, wie im Zeitraffer beobachten und aus den Daten ein physikalisches Modell zu machen“, erklärt Eicken. Der Erfolg des Gesamtprojekts entscheidet sich aber nicht im Hafenbecken. Der hängt davon ab, ob Johannes Freitag im August die Bojen im sibirischen Packeis wiederfindet.
jof
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